Wie geschieht Sühnung heute?

„Warum glauben Sie denn, dass der Messias bereits gekommen ist?“

Der junge jüdische Mann fragte: „Kommen Sie wirklich aus einem jüdisch-orthodoxen Hintergrund?“
Als ich dies bejahte, schaute er mich ungläubig an und schwieg für einen Augenblick. Dann erkundigte er sich: „Aber wenn Sie aus einem solchen Hintergrund stammen – warum glauben Sie denn, dass der Messias bereits gekommen ist?“
Ich überlegte und begann: „Nun, ich möchte zu erläutern versuchen, was sowohl in meinem Denken als auch in meinem Herzen die grundlegendste Triebfeder ist. Ungefähr im Jahr 200 v.u.Z. erklärte Simon der Gerechte laut den Pirkei Avot (Sprüchen der Väter), die Welt beruhe auf drei Dingen: 1) Torah; 2) Gottesdienstlicher Anbetung (womit damals die mit dem Tempel-Gottesdienst verbundenen Opfer gemeint waren); und 3) Erzeigung von Freundlichkeit.“1
„Nun“, so fuhr ich fort, „nach Zerstörung des Tempels im Jahr 70 u.Z. gab es in Javne eine Ratsversammlung unter dem Vorsitz des Jochanan ben Sakkai. Eine der von Sakkai und den anderen Teilnehmern getroffenen Entscheidungen bestand darin, die Bedeutung der Aussage Simons des Gerechten zu verändern – nämlich zu 1) Torah (womit nun die Säule des Torah-Studiums und -Unterrichts gemeint war); 2) Tempel-Gottesdienstlicher Anbetung (die jetzt zu Gebet umdefiniert wurde); und 3) Erzeigung von Freundlichkeit.“2

„Es gibt da auch noch die Möglichkeit, dass das Konzept der Opfer ganz und gar nicht geändert wurde.“

Der jüdische Mann erwiderte sofort: „Ja, was erwarten Sie denn? Was hätte das jüdische Volk nach Verlust des Tempels denn sonst tun sollen? Da es keine Möglichkeit mehr gab, Opfer darzubringen, wurde Gebet zum ganz offensichtlichen Ersatz!“
„Schon“, gab ich zurück, „aber es gibt da auch noch die Möglichkeit, dass das Konzept der Opfer ganz und gar nicht geändert wurde. Was haben denn die jüdischen Schreiber des Neuen Bundes verkündet? Haben sie etwa Änderungen an Mose und der stellvertretenden Sühne aus der Torah vorgenommen?“
Darauf konnte er nichts antworten.
Seit dieser Begegnung sind die auf dem Rat zu Javne getroffenen Entscheidungen mein andauerndes Studiengebiet. Taten die Rabbiner Recht daran, die im Tempel dargebrachten Opfer durch Gebet zu ersetzen? Oder darf man legitim darauf beharren, dass unmöglich etwas an dem geändert werden kann, was Gott hinsichtlich stellvertretender Sühne bereits offenbart hatte?

Sühnung laut Mose

Um richtig zu verstehen, was Sühnung gemäß der Torah bedeutet, müssen wir notwendigerweise Moses Erläuterungen zum Sündopfer genau untersuchen. Ich werde an dieser Stelle nicht jeden Vers aus dem 4. Kapitel des 3. Buches Mose abhandeln, der sich mit dem Sündopfer beschäftigt; vielmehr möchte ich hier einmal die Prinzipien in Verbindung mit diesem wichtigsten Opfer betrachten.

Vier Hauptprinzipien
Unabhängig davon, wer welches Opfer darbrachte: Es galt, einer ganz bestimmten Vorgehensweise zu folgen. Aus dieser lassen sich vier Hauptprinzipien ableiten:

1. Stellvertretung. Gottes ganz spezifische Anweisung an Mose besagte: Wenn ein Israelit kam, um das seiner Lebensstellung entsprechende Opfer darzubringen, sollte er dieses Tier als seinen eigenen, persönlichen Stellvertreter betrachten.

2. Identifikation. Als nächstes legte der Israelit seine Hände auf den Kopf des Tieres und bekannte seine Sünden, die dann (in symbolischer Weise) auf das Tier übertragen oder diesem auferlegt wurden. Das Tier wurde als Stellvertreter mit der Sünde des Opfernden identifiziert.

3. Im Gegensatz zur Annahme vieler Leser war es Aufgabe des Opfernden, das Tier unter Anleitung des diensttuenden Priesters zu töten. Der Priester fing das Blut auf und strich es an die richtige Stelle – abhängig davon, wer das Opfer darbrachte. Das dritte Prinzip ist somit der Tod des Tieres. Nach dem Willen Gottes hatte der Opfernde das Tier zu töten, um ihm in Erinnerung zu rufen: Die Strafe für Sünde ist der Tod. Der Prophet kommentiert so treffend: „Die Seele, die sündigt, die soll sterben“ (Hesekiel 18,4). Gott erwies uns seine Gnade, indem er den Stellvertreter anstatt des Opfernden sterben ließ.

4. Obwohl der Text in 3. Mose 4 das nicht ausdrücklich erwähnt, möchte ich dennoch vom Vorhandensein eines vierten Prinzips sprechen: dem Austausch des Lebens. Wenn das Tier starb, weil die Sünde des Opfernden auf ihm lag, wurde das Leben dieses Tieres dann auf den Darbringenden übertragen. Der Hinweis auf einen solchen Austausch liegt vor: Die Sünden des Opfernden wurden ja dem Tier auferlegt, das daraufhin sterben musste. Wenn dieses Tier daher starb, übergab es sein Leben demjenigen, der es brauchte.

Reaktion der Israeliten
Bei Darbringung dieser Tiere als Stellvertreter konnte jeder Israelit eine von drei möglichen Reaktionsweisen an den Tag legen:

Die Haltung der Gleichgültigkeit. Zumindest in der Zeit des ersten Tempels (die 586 v.u.Z. endete) gab es diejenigen, die sich aus dem in der Torah vorgezeichneten Opfersystem nichts machten. Vielleicht hatten einige von ihnen mehr Interesse an den götzendienerischen Systemen der Heiden. Ganz offensichtlich richtete sich Gottes Zorn gegen derartigen Götzendienst (5. Mose 18,9-14).

Die Haltung des Ritualismus. Die meisten Israeliten legten eine oberflächlich-flüchtige Haltung an den Tag und zogen ihr Programm lediglich durch, weil Mose das von ihnen verlangt hatte. Solche Leute waren eher an praktischen Angelegenheiten des Lebens, an Broterwerb und an Familienfragen interessiert. Doch Gott verabscheute diese Entartung des Tempelgottesdienstes zu einem rein rituellen Prozedere. Sehr häufig wiesen die Propheten auf genau diese Haltung hin. Besonders Jesaja schildert, wie „Anbeter“ zwar ganz bestimmt ihre Tiere zum Opfer brachten – ihr Herz jedoch war alles andere als bußfertig (Jesaja 1,1-18).

Die Torah sollte für uns ein Lehrmeister sein und uns über die großartige Wahrheit der Sühnung unterrichten.

Die Haltung des Glaubens. In Israel gab es auch viele, denen bei Darbringung ihres Opfers die Bedeutung stellvertretender Sühne bewusst wurde; sie erkannten, was jeder von uns durch diesen Prozess lernen sollte. Die Torah sollte für uns ein Lehrmeister sein und uns über die großartige Wahrheit der Sühnung unterrichten. Doch wirkte der Geist Gottes auch im Herzen von Ungläubigen; denn wenn in jemandem ein Interesse an geistlichen Fragen erwachte, kam für ihn auch eine Zeit, da die Opferung der Tiere die von Gott vorgesehene Bedeutung annahm. Ein solcher Suchender akzeptierte dann im Glauben die vier Prinzipien und verinnerlichte sie in seinem Herzen. Wenn er das tat, brachte er zwar bei den vorgeschriebenen Anlässen auch weiterhin seine Tiere dar; doch tat er das jetzt als Glaubender und war somit Bestandteil vom „Bildungsauftrag“ der Torah zur Unterweisung anderer, die den Herrn noch nicht kannten. Reagierten Israeliten in dieser Haltung des Glaubens, galten sie als Bestandteil vom Überrest der Gläubigen, den es in jeder Generation gab – sogar in Zeiten geistlicher Erneuerung, als die Anzahl der Gläubigen groß war (so etwa in den Tagen von 2. Chronik 29 – 31 und in der Zeit von König Josia, 2. Chronik 34 – 35).

Vergebungsgewissheit. Darüberhinaus waren sich Gläubige der Vergebung ihrer Sünden gewiss. David konnte ausrufen: „So weit der Osten ist vom Westen, hat er von uns entfernt unsere Übertretungen“ (Psalm 103,12). Während der Gläubige des Weiteren am Versöhnungstag zuschaute, wie der Sündenbock die Schuld des Volkes davontrug, konnte er von Herzen ausrufen: „Halleluja!“ Ein solcher Mensch erkannte, was da vor sich ging, wenn auch seine eigenen Sünden von diesem Tier davongetragen wurden (s. 3. Mose 16,10).

Die Entscheidung auf dem Rat zu Javne

Jacob Neusner zitiert ben Sakkais Erwähnung des Verses „an Frömmigkeit habe ich Gefallen und nicht an Schlachtopfern…“ (Hosea 6,6), um zu demonstrieren, dass sie der damals gängigen Hermeneutik leitender Rabbinergestalten entsprochen habe. 3
Zu biblischer Zeit bezeichnete das [hier mit „Frömmigkeit“ übersetzte] Wort „chesed“ (unter anderem) „die gegenseitige Verantwortlichkeit derer, die miteinander befreundet und verwandt sind“, wie sie auch zwischen Herren und Dienern sowie in jeder Beziehung gegenseitiger Verantwortung vorkam. Auf Gott bezogen, sind unter „chesed“ solche Handlungen zu verstehen, die mit dem Bund zwischen Mensch und Gott übereinstimmen. Hosea wollte also sagen, dass für Gott ein treues Festhalten an seinem Bund wichtiger ist als Opfer. In den Tagen Jochanans jedoch hatte das Wort einen ganz anderen Beiklang bekommen: Es bezeichnete Erbarmen oder Taten der Liebe und Barmherzigkeit.

„Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer“Matthäus 9,12-13

Als weiteres Argument zur Untermauerung seiner Aussage zitiert Neusner sogar Jeschua von Nazareth, der für die Bedeutung des Wortes „chesed“ dem Schein nach denselben Anspruch erhob: „Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das ist: Ich will Barmherzigkeit [eleon] und nicht Schlachtopfer; denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder“ (Matthäus 9,12-13).
Laut Neusner sieht es also danach aus, als ginge es bei „chesed“ eher um gute persönliche moralische Eigenschaften als um irgendeine spezifische äußerliche Handlung, sei sie nun rituell oder gesetzlich. Weiterhin sagt er, dies stehe in Einklang mit der für jene Zeit kennzeichnenden, zunehmenden Betonung auf inneren Aspekten der Religion. 4

Neusners Argumentation ist fehlerhaft. Erstens: Haben die Propheten wirklich angedeutet, dass es Gott sehr viel mehr um Buße, Entwicklung guter innerer, persönlicher und moralischer Eigenschaften sowie um Taten der Barmherzigkeit gehe als ums Darbringen von Opfern in Übereinstimmung mit einem Ritual? Zweitens: Gibt es denn eine andere Sühnung als stellvertretende Sühne? Mit diesen zwei Überlegungen möchten wir uns kurz beschäftigen.

Die tatsächliche prophetische Botschaft

Wenn wir die Bücher in Moses Torah und die prophetischen Bücher dahingehend untersuchen, wie Mose und die verschiedenen Propheten das Thema Opfer im Vergleich mit der so genannten größeren Betonung auf innerer und geistlicher Erfahrung betrachtet haben, stoßen wir auf eine ganz andere Situation als die von Neusner vorgeschlagene. Mose beispielsweise fasst die erste Tafel der Zehn Gebote mit den Worten zusammen: „Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist ein HERR! Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft“ (5. Mose 6,4-5). Eine solche Aussage ist gewisslich die Grundlage dafür, Taten des Mitgefühls zu tun; andererseits aber gibt Mose selber unter Gottes Anleitung sehr detaillierte Anweisungen für die Darbringung unterschiedlicher Opfer an jenem Ort, den Gott sich für den Gottesdienst auserwählen würde (5. Mose 12,6.11.13-14.21).

Jüdische Leiter beharren zwar ständig darauf, es sei doch Mose gewesen, der hier von sich aus die Notwendigkeit des Rituals erklärt habe. Die Propheten allerdings schildern das ganz anders.
Jeremia sagt, Gott habe zu den Vätern nicht von Brand- und Schlachtopfern gesprochen oder ihnen Derartiges befohlen; vielmehr wolle er, dass Israel auf seine Stimme höre, sodass er ihr Gott sein könne und sie sein Volk sein könnten (Jeremia 7,22-23). Dies mag noch mit ben Sakkais Beharren darauf übereinstimmen, dass Opfer eigentlich gar nicht nötig seien.

Andererseits beharrt Jeremia allerdings darauf, das Volk Israel solle zur wahren Anbetung des Herrn ihre „Brandopfer und Schlachtopfer … und Lob in das Haus des Herrn bringen“ (Jeremia 17,26). War Jeremia denn inkonsequent hinsichtlich dessen, was er als „wahren Gottesdienst“ bzw. „wahre Anbetung“ bezeichnete? Oder müssen wir anerkennen, dass das Volk angemessen darüber nachdenken sollte, was Mose bereits verkündet hatte?

Weder ein Prophet noch ein Mensch in den Schriften konnte dem widersprechen, was Mose bereits in der Torah gesagt hatte.

Wenden wir uns den Psalmen zu. Dort sagt David: „Denn du hast kein Gefallen an Schlachtopfern, sonst gäbe ich sie; an Brandopfern hast du kein Wohlgefallen. Die Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten“ (Psalm 51,18-19). Und trotzdem äußert David später im selben Psalm: „Dann wirst du Gefallen haben an Opfern der Gerechtigkeit, an Brandopfern und Ganzopfern; dann wird man Stiere opfern auf deinem Altar“ (Psalm 51,21). Einmal mehr bleibt uns nur eine einzige Folgerung übrig: Weder ein Prophet noch ein Mensch in den Schriften konnte dem widersprechen, was Mose bereits in der Torah gesagt hatte.

Neusner nimmt auch Bezug auf eine Stelle in Matthäus, wo Jesus nicht Opfer, sondern Barmherzigkeit fordert. An anderer Stelle jedoch empfahl Jesus: „Wenn du nun deine Gabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh zuvor hin, versöhne dich mit deinem Bruder; und dann komm und bring deine Gabe dar“ (Matthäus 5,23-24). Wir können nur erneut darauf beharren, dass der Messias selber niemals beiseiteschieben würde, was Mose bereits als wahren Gottesdienst und wahre Anbetung bezeichnet hatte.

In den vergangenen gut hundert Jahren hat die liberale Christenheit ein recht ähnliches Argument zusammengebastelt und behauptet, die Propheten hätten es für wichtiger gehalten, dass das Volk Israel – bewegt von einem um die Menschheit besorgten Herzen – Liebestaten wirke, statt Opfer darzubringen. Young hält einige dieser Aussagen fest:

Grey (George B., The Prophecy of Isaiah, Edinburgh 1926) beispielsweise sagt, die Ablehnung von Opfern sei kennzeichnend für die Religion Israels. Marti (Karl, Das Buch Jesaja, Tübingen 1900) behauptet, der Herr habe Recht und Gerechtigkeit eingefordert, nicht aber Opfer. Dieser Abschnitt (Jesaja 1,10-31) zeige, dass „Torah“ nicht auf kultische Vorschriften begrenzt werden solle und dass für Jesaja die ethische Forderung im Vordergrund gestanden habe.5

Youngs Kommentar hinsichtlich dieser liberalen Einstellung lautet: „Diese Haltung … versagt in ihrem Verständnis vom tatsächlichen Charakter prophetischer Lehre. Jesaja widersetzt sich nicht dem Opfer an sich, sondern vielmehr dessen Missbrauch.“ 6

Eine echte Herzenserfahrung machen.

Diese von ben Sakkai auf dem Rat zu Javne und in neuerer Zeit auch von Jacob Neusner vorgenommenen Versuche befassen sich gar nicht mit der eigentlichen Bedeutung dessen, was Mose und die Propheten vermittelt haben. Man kann hier keine Zweiteilung oder Aufspaltung schaffen zwischen dem kultischen Ausdruck der Opferdarbringung einerseits und dem Ruf nach einem bußfertigen Herzen andererseits. Die Voraussetzung war stets, dass bußfertige Menschen als äußerliches Zeichen ihrer Umkehr ein Opfer darbrachten. Die Betonung der Propheten lag darauf, dass die jüdischen Menschen zunächst eine echte Herzenserfahrung machen und erst daraufhin ihre Opfer darbringen sollten. Es besteht kein Widerspruch zwischen Opfern einerseits und der aufrichtigen Herzenserfahrung andererseits, aus der heraus Taten der Freundlichkeit vollbracht wurden. Beide waren notwendig, wenn man denn Mose und die Propheten ernst nahm.

Nach dem Zweiten Tempel

Infolge der Richtungsweisung jener Männer vom Rat zu Javne wurde das Judentum zu einer Religion ohne stellvertretende Sühne. Neusner fasst diese Entscheidung mit der Aussage zusammen, das neue Zeitalter beruhe nun auf Grundlage des Torah-Studiums, der Erfüllung der Gebote und ganz besonders der Vollbringung von Taten des Mitgefühls. 7
Spätere Führungspersönlichkeiten bauten auf dieser neuen Richtungsweisung auf. Rabbi Simeon sagte: „Die Worte der Torah sind mir kostbarer als Brandopfer und Schlachtopfer“ (Avot de Rabbi Nathan VIII). Das war jedoch seine eigene Meinung.

Durchs Fehlen des Tempels wurde Gebet nun zu einem der Sühnungsmittel.

Auch das Gebet wurde wichtig. Gebet war schon beim mosaischen Ritus der stellvertretenden Opfer ein wichtiger Bestandteil; doch durchs Fehlen des Tempels wurde Gebet nun zu einem der Sühnungsmittel. Laut Rabbi Elieser hat Gebet einen höheren Stellenwert als Opfer und sogar als gute Taten (Berakhot 26b). Auch gilt Gebet – getrennt vom Opfer – als wahre Anbetung des Herzens (Ta’anit 2b). Wer Gebetsriemen (Tefillin) anlegt, das [jüdische Glaubensbekenntnis] Sch’ma rezitiert und Gott Gebet opfert, hat laut dieser Sichtweise ein Opfer auf dem großen Altar dargebracht (Berakhot 15a). Erneut wird die Meinung von Menschen ernster genommen als die Aussagen der Torah.

Auch Buße wird zu den Sühnungsmitteln gezählt. Moore weist darauf hin:

Wichtig ist: Bereits in der Zeit des noch bestehenden Tempels wurde das Grundprinzip aufgerichtet, dass die Wirksamkeit jedweder Art von Sühne moralisch bedingt war; ohne Buße half auch kein Ritual. Nach Aufhören der Opfer blieb Buße an und für sich als alleinige Bedingung für den Sündenerlass übrig.8

Außerdem weist Moore auch auf Folgendes hin: In der Zeit des Zweiten Aufstandes (132 – 135 u.Z.) hatten sich jüdische Menschen im Land Juda dermaßen an eine Religion ohne Opfer gewöhnt, dass man davon ausging, Buße habe den Platz der stellvertretenden Sühnung eingenommen.

Das Ende vom Lied: Bis zur Vollendung des Talmuds im Jahr 500 u.Z. hatten die rabbinischen Führer dem Judentum eine neue Richtung gegeben, indem Sühnung jetzt auf eigenen Bemühungen basierte. Sie hatten die (früher mit dem stellvertretenden Opfer verbundenen) Elemente Gebet, Geständnis, Sünde und Buße genommen und verkündeten nun, diese Elemente allein seien das Mittel zur Sühnung.
Aber wie können wir angesichts von Moses Anweisungen in der Torah eine jüdische Religion erklären, die gar kein stellvertretendes Opfer mehr hat?
Einige sagen vielleicht (genau wie der eingangs erwähnte junge Mann in seinem Gespräch mit mir), es sei doch gar nichts anderes übrig geblieben; die Rabbiner hätten also einen „legitimen Grund“ gehabt, die Sühnungsmittel zu ändern. Doch diese Antwort hat ernstliche Konsequenzen für alle Ewigkeit.

Wie können wir angesichts von Moses Anweisungen in der Torah eine jüdische Religion erklären, die gar kein stellvertretendes Opfer mehr hat?

Die biblische Alternative

Die jüdischen Gläubigen, die den Brit Chadaschah (das Neue Testament) aufschrieben, wagten es nicht, Moses Worte zum Thema Sühnung zu ändern. Interessant ist, dass die mit dem Sündopfer verbundenen vier Prinzipien aus 3. Mose 4 samt und sonders in den Neuen Bund mit hinübergenommen werden. Hier werden sie allerdings nicht mehr auf ein Opfertier bezogen, sondern hängen am Wirken des Messias selber.

Er ist wahrhaftig unser Stellvertreter: das Lamm „ohne Fehl und ohne Flecken, [das] zwar zuvor erkannt ist vor Grundlegung der Welt, aber offenbart worden ist am Ende der Zeiten um euretwillen“ (1. Petrus 1,19-20). Er identifizierte sich mit unseren Sünden; wenn wir ihn daher annehmen, „[hat er selbst] unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen“ (1. Petrus 2,24). Weil er zur Sünde geworden ist, ist er auch als unser Sündopfer gestorben: „Denn es hat ja der Messias einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten“ (1. Petrus 3,18). Doch in seinem Tod empfangen wir als an ihn Glaubende das Leben. Zu den traurigsten Worten des Messias gehört, was er über einige Menschen seiner eigenen Generation sagen musste: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt“ (Johannes 5,40). Wer jedoch zu ihm kommt, „hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben übergegangen“ (Johannes 5,24).

Die jüdischen Schreiber des Neuen Bundes änderten die Botschaft Moses nicht.

Nein, diese jüdischen Schreiber des Neuen Bundes änderten die Botschaft Moses nicht; vielmehr nahmen sie die vier Prinzipien in Verbindung mit der im Opfersystem vorhandenen stellvertretenden Sühnung und wandten sie auf den Messias Israels an. Damit stellten sie eine geistliche Gleichung auf: Sühnung = Buße + sühnendes Opfer. Beide sind nötig; wenn man jedoch nur eins übernimmt und es als ausschließliches Sühnungsmittel gebrauchen will, entsteht daraus einfach keine Sühne.

Durch Zerstörung des Zweiten Tempels kam das Volk Israel in eine Krise. Wie sollte man sich jetzt noch Gott nähern? Gott sah das Kommende voraus und hatte durch das Opfer des Messias bereits für einen Ausweg gesorgt – jedoch nicht im Widerspruch zu den bereits in der Torah vorhandenen Anordnungen Moses. Und trotzdem wandte sich die jüdische Leiterschaft tatsächlich von dem ab, was Mose als einzige Möglichkeit der Sühnung für Sünde verkündet hatte.
Nach Verlust des Zweiten Tempels blieben damit zwei Bundesvölker im Land:
1. Jüdische Gläubige an Jesus, zu denen später auch nichtjüdische Gläubige stießen; sie alle traten unter den Schutz des Neuen Bundes.
2. Das Volk Israel unter Führung seiner religiösen Leiter, die dank des Abrahamsbundes ein Bundesvolk blieben – egal, welches Religionssystem sie für das Volk strukturierten.

Welche Hoffnung haben diejenigen, die unter den Schutz des Neuen Bundes getreten sind? Und welche Hoffnung haben wiederum diejenigen, die sich lieber ihr eigenes Gottesdienst- und Anbetungssystem entwickelt haben? Am besten lassen sich die aus den Hoffnungen einer jeden Gruppe entstehenden Konsequenzen durch eine Untersuchung dessen erwägen, was Menschen aus diesen Gruppen gesagt und getan haben, als sie sich dem Tag ihres Abschieds von dieser Welt näherten. Neusner zitiert mehrere Quellen für den Bericht über die letzten Worte von Jochanan ben Sakkai:

In seinen letzten Stunden weinte Rabban Jochanan ben Sakkai fortwährend mit lauter Stimme. Oh Meister, riefen seine Jünger, oh hohe Säule, Licht der Welt, mächtiger Hammer, warum weinst du? … Ich gehe hin, um vor dem König der Könige zu erscheinen, dem Heiligen, gepriesen sei er… Weiterhin habe ich vor mir zwei Wege, einen zum Paradies, den anderen zur Gehenna [Hölle]; und ich weiß nicht, ob er mich zur Gehenna verurteilen oder aber mich ins Paradies einlassen wird.9

Aus dem Munde eines Mannes, der fand, Sühne könne durch Taten der Barmherzigkeit erwirkt werden, klingen solche Worte wahrlich ernüchternd! Er fürchtete den Heiligen, weil es vielleicht doch eine Sünde gab, die er nicht bekannt hatte.

Nach Verlassen dieser Welt wird man sofort in der Gegenwart des Herrn sein.

Nun wenden wir uns den Worten eines jüdischen Gläubigen an Jesus zu – eines Leiters in dieser Gemeinschaft, der Sühnung unter dem Schutz des Neuen Bundes gefunden hatte: Rabbi Schaul, auch Paulus genannt. Möglicherweise hatten Paulus und ben Sakkai sogar gemeinsam studiert und einst zusammen gearbeitet, da sie ungefähr gleich alt waren. Paulus’ Glaube jedoch baute auf jener Sühnung, die ihm der Messias erwirkt hatte, dessen Leben er nun in sich trug. Er erklärt: „Ich werde aber von beidem bedrängt, indem ich Lust habe, abzuscheiden und beim Messias zu sein, denn es ist weit besser; das Bleiben im Fleisch aber ist nötiger um euretwillen“ (Philipper 1,23-24). In gleicher Weise sagte Paulus auch: „Wir … möchten lieber ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein“ (2. Korinther 5,8). Die Unterschiede in den Hoffnungen dieser zwei Bundesvölker sind frappierend.

Die jüdischen Gläubigen klammerten sich an eine sicher vollbrachte Sühnung. Darum war es in ihrem Denken gar nicht zu hinterfragen, dass sie nach Verlassen dieser Welt sofort in der Gegenwart des Herrn sein würden. Ist das auch Ihre Gewissheit?

Anm. d. Übers.:
Bibelstellen-Angaben im deutschen Text entsprechen der Verszählung in der dt. Bibel (Elberfelder CSV Hückeswagen), die z.T. erheblich von der Verszählung im engl. Original dieses Artikels abweicht. Außerdem wurde (in Übereinstimmung mit dem engl. Original) das griechisch-lateinische „Christus“ durch den im jüdischen Sprachgebrauch entsprechenden Titel „Messias“ ersetzt; beides bedeutet „der Gesalbte“. – Im Folgenden ist ferner von „Torah“ (Gesetz), „Propheten“ und „Schriften“ die Rede, was der Aufteilung der jüdischen Bibel entspricht. Die jüdische Bibel und das christliche „Alte Testament“ enthalten zwar dieselben Bücher, jedoch in unterschiedlicher Reihenfolge. Die „Torah“ umfasst 1. – 5. Mose; als „Propheten“ gelten die Bücher Josua, Richter, 1./2. Samuel, 1./2. Könige, Jesaja, Jeremia, Hesekiel sowie die 12 „kleinen Propheten“ (Hosea – Maleachi); alle übrigen Bücher inkl. Psalmen gehören zu den „Schriften“.

Fußnoten:

  1. R. Hereford (Hrsg.), The Ethics of the Talmud Sayings of the Fathers [New York: Schocken, 1962, S. 22-24]
  2. J. Goldin, The Three Pillars of Simon the Righteous, American Academy of Jewish Research, Bd. XXVII, 50-51
  3. Jacob Neusner, Development of a Legend. Studies on the Traditions Concerning Yohanan ben Zakkai [Leiden: E.J. Brill, 1970], S. 142
  4. Neusner, a.a.O., S. 144
  5. Young, Edward J., The Book of Isaiah, Bd. I [Grand Rapids: Eerdmans], S. 61; Übers. d. vorliegenden Zitats: L.K.
  6. Young, a.a.O., S. 145; Übers. d. vorliegenden Zitats: L.K.
  7. Neusner, a.a.O., S. 145
  8. G. E. Moore, Judaism, I [Cambridge Harvard, 1955], S. 505; Übers. d. vorliegenden Zitats: L.K.
  9. Neusner, a.a.O., S. 172; dort zitiert nach Avot de Rabbi Nathan, Kap. 35, Schechter 40a; Übers. d. vorliegenden Zitats: L.K.