In den vergangenen Jahrzehnten hat das jüdische Volk eine besondere Art der „Neugewinnung“ entdeckt. Es geht dabei nicht um die Renaturierung von Landflächen und nicht um das Pflanzen von Bäumen, sondern um die Wiederentdeckung des Einen, den viele für Israels Größten halten, die Hinwendung zu Jesus von Nazareth, nicht zuletzt zu einem Juden, der zu Recht in der Geschichte unseres Volkes einen festen Platz verdient.

Doch während viele Juden Jesus eine gewisse Bedeutung zugestehen, gibt es noch einen Juden aus dem ersten Jahrhundert, den unser Volk ablehnt, Saul von Tarsus, den Apostel Paulus.  Warum wird der erste akzeptiert und der zweite nicht? Einige argumentieren so: „Jesus ist als Jude geboren und als Jude gestorben. Es war nicht seine Absicht, eine neue Religion zu gründen. Seine Lehren waren jüdisch und sein Glaube war ein Beispiel für den Glauben unserer Väter. Paulus dagegen wendete sich nicht nur gegen das Judentum, sondern seine Lehren legten das Fundament für 20 Jahrhunderte Unverständnis und Missachtung durch die Nichtjuden.“

Aber ist diese Argumentation richtig und berechtigt? Kann es nicht sein, dass Paulus selbst zum Opfer von Unverständnis und Missachtung geworden ist? Ist es nach 2000 Jahren überhaupt noch möglich, mit einiger Bestimmtheit festzustellen, wie Paulus uns wahrgenommen hat und welche Bedeutung er der jüdischen Identität beigemessen hat?

Ja, es ist möglich, das zu erfahren. Wir verfügen nicht nur über den biografischen Bericht, den sein Reisegefährte, der Arzt Lukas, verfasst hat, sondern wir haben auch die Worte des Paulus selbst. Diese Worte sind erhalten geblieben als Briefe, die er an diverse Gemeinden in Europa und Asien geschrieben hat, und als persönliche Korrespondenz mit nahestehenden Freunden. Diese ersten Quellen liefern ein deutliches Porträt der Haltung und des Charakters dieses Mannes:
„Ich bin ein Jude, geboren in Tarsus in Cilicien, aber erzogen in dieser Stadt (Jerusalem). Zu den Füßen Gamaliels wurde ich in dem gewissenhaften Einhalten des Gesetzes unserer Väter unterwiesen…“ (Apostelgeschichte 22,3).
Paulus äußerte sich über seine frühe Hinwendung zu den Praktiken, in denen er ausgebildet wurde, indem er sich selbst folgendermaßen beschrieb:
„Ein Hebräer unter Hebräern, im Hinblick auf das Gesetz ein Pharisäer, … im Hinblick auf die Gerechtigkeit im Gesetz untadelig“ (Philipper 3, 5.6).

Aber auf dem Weg in die Stadt Damaskus, so berichtet Paulus, sei er jemandem begegnet, der für sich beanspruchte, der dem Volk Israel versprochene Messias zu sein; gleichzeitig aber auch derjenige, der dem jungen Saul bekannt war als ein von einer römischen Wache Gekreuzigter; einer, dessen Anhänger beharrlich behaupteten, er sei vom Tod auferstanden und habe die Prophetien der Heiligen Schriften erfüllt.
Saul bestand darauf, dass er mit Jesus von Nazareth zusammengetroffen sei. Diese Begegnung veränderte sein Leben endgültig.
„Gegen Mittag, als ich nahe vor Damaskus war, umstrahlte mich plötzlich vom Himmel her ein helles Licht. Ich fiel zu Boden und hörte eine Stimme zu mir sagen: ‚Saul, Saul, warum verfolgst du mich ?‘ – ‚Wer bist du, HERR ?‘ fragte ich. ‚Ich bin Jesus von Nazareth, den du verfolgst‘, antwortete er. “ (Apostelgeschichte 22, 6-8).
Dann, in Damaskus, informierte ein jüdischer Landsmann namens Ananias Saul über die Aufgabe, die Gott für ihn bereit hielt:
„Du wirst vor allen Menschen ein Zeuge für ihn sein von dem, was du gesehen und gehört hast.“ (Apostelgeschichte 22, 15).

Darum verbrachte Saul, auch bekannt unter seinem griechischen Namen Paulus, den größeren Teil seiner verbleibenden drei Lebensjahrzehnte bei fremden Völkern, wo er den griechisch sprechenden Nichtjuden den „Christus“, den „Messias“ näherbrachte.

Hatte sein Leben unter den Nichtjuden zur Folge, dass sein Selbstverständnis als Jude abnahm oder gar verschwand? – Laut seiner Worten war das nicht der Fall. Er schrieb der Gemeinde in Rom:
“ Ich selbst bin ein Israelit, ein Abkömmling Abrahams, vom Stamm Benjamin.“
(Römer 11,1).

Dass er sich weiterhin als Jude verstand, lässt sich auch daraus ersehen, dass er beim Betreten einer neuen Stadt als erstes die örtliche Synagoge besuchte. Indem er zuerst seinen Landsleuten predigte, folgte Paulus dem Beispiel Jesu, der seine Botschaft anfangs und vorrangig dem Hause Israel verkündigte. Er hatte seinen Jüngern gesagt:
„Ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an die Enden der Erde.“(Apostelgeschichte 1,8).
Oder, wie Paulus es später handhabte: „…zuerst für den Juden, dann auch für den Nichtjuden.“ (Römer 1, 16). Aber dieser Grundsatz „zuerst für den Juden“ war mehr als ein Akt des Gehorsams, er war vielmehr der Ausdruck seiner beharrlichen Liebe und Sorge um das jüdische Volk. Er schrieb:
„Der Wunsch meines Herzens und mein Flehen zu Gott für mein Volk Israel ist, dass sie gerettet werden.“ (Römer 10,1)

Aber viele, wenn auch nicht alle seiner Landsleute wiesen seine Verkündigung zurück und das bereitete ihm viel Kummer. So tief war er betrübt, dass er sich zu schreiben genötigt sah:
„Ich trage große Sorge und einen unablässigen Schmerz in meinem Herzen. Denn ich wünschte, selbst von Christus verbannt zu sein und getrennt vom Messias für meine Brüder, meine Verwandten nach der Abstammung, die Israeliten sind.“ (Röm. 9, 2 – 4)
Seine Empfindungen geben fast wie ein Echo den Ruf eines anderen wieder, der Gottes Offenbarung unserem Volk und der Welt mitteilte. Das war der Prophet Mose:
„O, was für eine große Sünde hat dieses Volk begangen!“
Mose bekannte vor Gott, dass wir das goldene Kalb angebetet hatten.
„Sie haben sich Götter aus Gold gemacht, aber nun, bitte, vergib ihnen ihre Sünde, aber wenn das nicht möglich ist, dann tilge mich aus deinem Buch, das du geschrieben hast !“ (2. Mose 32, 31-32)
Diese beiden Männer, zwischen denen Jahrhunderte lagen, verband eine solche Liebe zu ihrem Volk, dass sie bereit waren, ihr Leben für die Rettung ihres Volkes hinzugeben.

Aber anders als sein Vorgänger Mose war Paulus damit beauftragt, seine Botschaft in erster Linie den anderen Völkern zu bringen. Angesichts der umfassenden jüdischen Erziehung, die Paulus prägte, ist eines verwunderlich: Warum sollte Gott gerade Paulus, einen von jüdischer Tradition und Denkweise durchdrungenen Mann, dazu auserwählen, der Hauptverkündiger des Messias unter den Nationen zu werden? Warum nicht einen Nichtjude aussuchen, der sich der messianischen Bewegung angeschlossen hat, einer, der den Seinen hätte predigen können?

Auf den ersten Blick wirkt die Erwählung des Paulus rätselhaft, aber beim genauen Hinschauen erkennt man, dass Paulus der perfekte Kandidat war. Benötigt wurde jemand, der zu den Nichtjuden so sprechen konnte, dass sie ihn verstanden, während gleichzeitig die sinngemäße Übersetzung einer jüdischen Botschaft gesichert sein musste. Paulus hatte seine Kindheit in Tarsus verbracht, einer Stadt Kleinasiens, bekannt als Zentrum heidnischer Kultur. Obwohl Paulus‘ Vater, ein Pharisäer, sicher verhindert hätte, dass sich sein Sohn an irgendeiner der heidnischen Praktiken beteiligt, hatte Paulus doch Gelegenheit, die Kulte und Ausdrucksformen des heidnischen Denkens zu beobachten. Wer sonst könnte besser die genaue Übertragung einer jüdischen Botschaft in die Welt der Heiden gewährleisten, als ein Experte des jüdischen Gesetzes und seiner Theologie, der auch die Welt außerhalb der Grenzen des Israels der Antike kannte – wer sonst außer Paulus?

Es gab eine Bedrohung, der nur Paulus begegnen konnte. Als die Anzahl der bekehrten Nichtjuden die Anzahl der Juden übertraf, die an den Messias glaubten, bestand die Gefahr, dass die nichtjüdischen Christen das Wissen um die jüdischen  Ursprünge ihres Glaubens verlieren würden und dass sie mit Verachtung auf die Mehrheit der nicht an den Messias glaubenden Juden blicken könnten. Sie hätten aus Unwissenheit folgern können, Gott hätte mit seinem lange zuvor erwählten Volk Schluss gemacht. Aber Paulus als leidenschaftlicher Jude, durch dessen Dienst die Nichtjuden vom Messias gehört hatten, setzte seine ganze Autorität dafür ein, dieser Gefahr frontal zu begegnen. Nur Paulus konnte sie so frei heraus ermahnen und warnte:
„Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich! Wenn Gott die natürlichen Zweige (das jüdische Volk) nicht verschont hat, dann kann es auch sein, dass er dich nicht verschont… und wenn sie (die Juden) nicht im Unglauben verharren, werden sie wieder eingepfropft werden, denn Gott vermag, sie wohl wieder einzupfropfen.“ (Römer 11, 20 – 21.23).

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Bis heute wird Paulus beschuldigt, die jüdischen Lehren Jesu in eine heidnische Religion umgestaltet zu haben, die ganz von ihren mittelorientalischen Ursprüngen losgelöst sei. Manche spekulieren, ohne Paulus hätte das Christentum entweder als Sekte innerhalb des Judentums weiter bestanden, oder es wäre in den Armen der Kultur, die ihm zum Leben verholfen hatte, eines natürlichen Todes gestorben.

Bei dieser Sichtweise gibt es zwei Probleme:
Zunächst wird zwischen den Lehren Jesu und denen des Paulus ein Widerspruch angenommen. Jesus wird als echter Jude betrachtet, Paulus dagegen als absoluter Heide. Bei genauerem Hinsehen lassen sich jedoch keine Widersprüche erkennen. Stattdessen entdeckte man eine Weiterentwicklung der Gedanken, beginnend mit den Lehren Jesu, die gewissenhaft durch den Rabbi aus Tarsus in der Welt der Nichtjuden verbreitet wurden. Jesus lehrte im Hinblick auf das Ziel des Gesetzes:
„Dieses sind die Schriften, die von mir Zeugnis geben…“ (Johannes 5,39)
Paulus bestätigte diesen Standpunkt in seinem Brief an die Galater und schrieb:
„So ist also das Gesetz unser Lehrmeister geworden auf den Messias hin, damit wir aus Glauben gerechtfertigt würden.“ (Galater 3, 24)
Im Hinblick auf die Gültigkeitsdauer des Gesetzes fuhr Paulus fort:
„Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter der Aufsicht durch das Gesetz.“ (Galater 3,25)
Auch hier gab er lediglich die Lehren Jesu wieder:
„Das Gesetz und die Propheten hatten ihre Gültigkeit bis zu Johannes (dem Täufer). Seit der Zeit wird die Gute Botschaft vom Königreich Gottes gepredigt…“ (Lukas 16,16)
Wenn wir den jüdischen Charakter der Lehren Jesu akzeptieren – und das tun die meisten jüdischen Gelehrten -, dann müssen wir auch den jüdischen Charakter der Lehren seiner Jünger akzeptieren. Der jüdische Gelehrte Joseph Klausner schreibt (in „From Jesus to Paul“ Mc Millan Cp. New York 1943, p. 466):
„Es gibt nichts in der Lehre des Paulus, nicht einmal die äußerst geheimnisvollen Elemente darin, die nicht aus verbürgtem Judentum stammen.“

Das zweite angesprochene Problem ist geschichtlicher Natur: Die Kluft zwischen dem Judentum und der messianischen Bewegung  hatte sich schon aufgetan vor Paulus‘ neuer Hinwendung zum Glauben. Spannungen mit den örtlichen religiösen Autoritäten hatten sich bereits im Zusammenhang mit dem Tod eines jüdischen Gläubigen namens Stephanus zugespitzt.
Paulus hatte mit den Folgen dieser Angelegenheit zu tun, aber nicht als Jünger, dessen Lehren Streit angefacht hätten – im Gegenteil, Paulus wird als der glühendste Feind der messianischen Sekte beschrieben. So gesteht Paulus der Gemeinde in Galatien:
„… wie ich die Gemeinde Gottes aufs Äußerste verfolgte und versuchte, sie zu zerstören.“ (Galater 1, 13)
Wer die Lehren des Paulus für die Abspaltung vom Judentum verantwortlich macht, der ignoriert die Tatsache, dass die Spaltung zuvor schon passiert war.

Die tatsächliche Ursache für die Loslösung hatte nichts mit etwaigen von Paulus eingeführten „heidnischen Neuerungen“ zu tun. Es fehlte auch nicht an Übereinstimmung zwischen den Lehren des Nazareners mit denen seines Apostels Paulus. Der Streit drehte sich um den Anspruch Jesu. Er beanspruchte, der Messias zu sein.

Stimmen die Lehren Jesu mit denen des Paulus überein? Wir meinen ja. Weichen diese Lehren von den Lehren der hebräischen Heiligen Schriften ab? Wir meinen nein. Ist Jesus der Messias? Wir glauben ja.
Wir laden Sie dazu ein, sich mit diesen Fragen näher zu beschäftigen, indem Sie das Neue Testament studieren, das Jesu Lehren und seinen Anspruch wiedergibt, und die Prophetien aus dem Tanach, auf den er seine Ansprüche gründete.

Viele Wissenschaftler erkennen an, dass die Lehren Jesu ausgeprägt jüdisch sind. Aber wie sieht das bei Paulus aus? Wir glauben, dass ein Vergleich des Tanach mit den Reden Jesu und den Briefen des Paulus eine deutliche Übereinstimmung erkennen lassen. Beachten Sie, was Paulus, Jesus und die hebräischen Heiligen Schriften über das Gesetz sagen, über seine Ziele und die Dauer seiner Gültigkeit:

Das Gesetz
TANACH JESUS PAULUS
O wie habe ich dein Gesetz so lieb! Ich sinne darüber den ganzen Tag nach. (Psalm 119,97) Denkt nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekom- en aufzulösen, sondern zu erfüllen. (Matthäus 5,17) So ist nun das Gesetz heilig und das Gebot ist heilig, gerecht und gut. (Römer 7,12)
Das Ziel des Gesetzes
TANACH JESUS PAULUS
Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg. (Psalm 119, 105) Dieses sind die Schriften, die von mir Zeugnis geben. (Johannes 5,39) So ist also das Gesetz unser Lehrmeister geworden auf den Messias hin, damit wir aus Glauben gerechtfertigt würden. (Galater 3,24)
Die Gültigkeitsdauer des Gesetzes
TANACH JESUS PAULUS
Die Zeit kommt, spricht der HERR, dass ich einen neuen Bund schließen werde mit dem Hause Israel und mit dem Haus Juda …Ich will mein Gesetz in ihr Innerstes legen und es in ihre Herzen schreiben. (Jeremia 31, 31.33) Das Gesetz und die Propheten weissagen bis auf Johannes (den Täufer). Seitdem wird das Königreich Gottes verkündet und jedermann drängt sich mit Gewalt hinein. (Lukas 16,16) Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter der Aufsicht durch das Gesetz. (Galater 3,25)