Das Evangelium verkünden – eine Verschwendung?
Anmerkung: Dieser Text besteht aus zwei Artikeln, die Avi Snyder zu unterschiedlichen Zeiten zum selben Thema geschrieben hat. Teil 1 stammt aus dem englischen Rundbrief vom März 1990; Teil 2 ist nicht datiert.
Gedanken zur angeblichen Fruchtlosigkeit der Weitergabe von Gottes Guter Botschaft.
Der junge Mann blieb stehen, als ich gerade unsere evangelistischen Traktate verteilte. Er sagte, er glaube ebenfalls an Jeschua (Jesus). Während ich stets dankbar bin, wenn ein Bruder oder eine Schwester im Herrn stehenbleibt und einen Gruß mit mir wechselt, konnte ich schon an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass dieser Mann bestimmt keine ermutigenden Worte von sich geben würde (etwa: „Macht weiter mit dieser guten Arbeit!“ oder ähnliches).
„Ich bin ja auch voll und ganz dafür, den Menschen von Jesus zu erzählen“, fing er an. „Aber…“ Er wandte das Traktat, das er gerade von mir erhalten hatte, um und um. „Halten Sie das nicht für Verschwendung?“
„Verschwendung von was?“, erkundigte ich mich.
„Zeitverschwendung. Papierverschwendung.“
Ich zuckte höflich die Achseln, weil ich mich nicht auf eine ausgedehnte Diskussion einlassen wollte. „Nein“, sagte ich, „ich halte das nicht für Verschwendung.“
„Ich meine, die meisten hiervon landen doch auf der Straße, auf dem Gehweg oder im Mülleimer“, sagte er.
Wenn Ungläubige die Wahrheit gar nicht wissen wollen, werden sie sich immer übers Evangelium ärgern
Ich blickte mich schnell um, und es lagen nicht gar so viele verschmähte Traktate auf dem Boden.
„Wir achten immer darauf, unsere weggeworfenen Traktate selber aufzuheben“, erklärte ich. Ich dachte, damit wäre das Gespräch zu Ende; aber er wollte das Thema scheinbar unbedingt weiter ausrollen.
„Ich meine, mir würde es nicht besonders gefallen, wenn mir irgendjemand ein Stück Papier ins Gesicht klatscht.“
Bei dieser Aussage muss ich wohl ziemlich verdattert dreingeblickt haben.
„Habe ich Ihnen dieses Stück Papier ins Gesicht geklatscht?“, fragte ich. „Ich dachte, ich hätte es Ihnen nur höflich entgegengestreckt, als Sie an mir vorbeigegangen sind.“
„Na ja, so war’s ja auch, aber…“
„Verraten Sie mir bitte etwas“, warf ich schnell ein. „Haben Sie schon jemals Traktate verteilt?“ Als er zugab, dass er das noch nie getan hatte, stellte ich ihm eine weitere Frage.
„Wenn Sie es tun würden, was wäre Ihrer Meinung nach am schwierigsten daran?“
„Also, ich würde keine Traktate verteilen, weil ich das für Zeitverschwendung halte, und ich finde, ihr regt nur die Leute auf“, entgegnete er.
„Okay, aber nur mal angenommen, Sie würden es trotzdem tun“, fuhr ich fort. „Was wäre dabei am schwierigsten?“
Er hielt inne, als würde er antworten; dann beschloss er, sich erneut zu drücken. „Ihr macht die Leute doch nur verrückt“, sagte er.
„Ich glaube, Jesus hat vielleicht auch manche Leute ‚verrückt gemacht‘, indem er am Sabbat geheilt oder Lazarus von den Toten auferweckt hat“, sagte ich. „Nicht, das etwas an seinem Benehmen die Leute verrückt gemacht hätte. Wer sich verrückt machen ließ, ärgerte sich nicht über sein Benehmen, sondern über seine Botschaft. Wenn Ungläubige die Wahrheit gar nicht wissen wollen, werden sie sich immer übers Evangelium ärgern – ob man ihnen nun ein Traktat gibt oder in ihrem eigenen Zuhause mit ihnen spricht.“
Er wollte nicht im Geringsten nachgeben; ich ebensowenig. Also lächelte ich freundlich, wünschte ihm einen angenehmen Tag und machte mit dem Traktate-Verteilen weiter.
Allerdings muss ich zugeben: Er hatte recht damit, dass Leute wütend werden. Zumindest bei einigen ist das der Fall; nicht bei allen, aber es kommt durchaus vor. Das weiß ich aufgrund meiner nur zu guten Erinnerung daran, wie beleidigt ich selber war, als ich zum ersten Mal von einem Juden für Jesus ein evangelistisches Schriftstück ausgehändigt bekam (ins Gesicht geklatscht? Ganz und gar nicht!).
Es war im Sommer 1975 in New York City. Ich weiß noch, wie ich dachte: „Jemand sollte diesen Clowns da mal sagen, dass man nicht Jude sein und an Jesus glauben kann!“ Aber dieser Jemand würde nicht ich sein! Ich ging einfach weiter. Außerdem steckte ich das Traktat in die Hosentasche. Zwei Jahre lang behielt ich es. Dann stieß ich 1977 auf ein weiteres Traktat (eines, das ich zufällig aufhob, nachdem jemand anderes es weggeworfen hatte). Ich durchforschte die Bibel mit einem offenen Herzen und kam schließlich zu dem Schluss, dass man durchaus Jude sein und an Jesus glauben kann. Also tat ich das. Ich übergab mein Leben an Jeschua; und etwa sechs Monate später meldete ich mich als Freiwilliger bei Juden für Jesus, um – erraten – Traktate zu verteilen!
Ich nehme mal an, dass ich im Laufe meines Dienstes über die Jahre hinweg eine ganze Anzahl von Menschen aufs Evangelium wütend gemacht habe. Dazu fällt mir ein, wie ich um 1990 von einer jungen Frau hörte, die 1982 sehr böse auf mich geworden war (kurz davor hatte ich die Arbeit im Zweig von Juden für Jesus Los Angeles aufgenommen). Ehrlich gesagt, konnte ich mich gar nicht mehr an den Zwischenfall erinnern – sie aber sehr wohl.
„Vielleicht sollte ich darum beten, dass mehr Leute Anstoß an mir nehmen“
Diese jüdische Frau aus Frankreich hieß Annette und hatte kurz zuvor eine unserer Versammlungen besucht. Danach setzte sie sich mit unserer Mitarbeiterin Lynn Wein zusammen. Am nächsten Tag rief Lynn mich an und erzählte mir, dass Annette ihr Herz Jeschua übergeben hatte!
„Erinnerst du dich noch an die Begegnung mit ihr?“, wollte Lynn wissen.
„Am vorigen Freitag?“
„Nein, in Westwood, wo du 1982 Traktate verteilt hast. Annette sagte, du könntest dich vielleicht noch daran erinnern, weil sie es dir so schwer gemacht habe.“
„Und jetzt ist sie gläubig?“, fragte ich.
„Und jetzt ist sie gläubig.“
„Vielleicht sollte ich darum beten, dass mehr Leute Anstoß an mir nehmen“, sagte ich.
Jeschua hat einmal ein Gleichnis über einen Sämann erzählt, der sein Saatgut ziemlich breitflächig ausstreute. Einiges fiel auf felsigen Boden. Einiges fiel auf Boden, wo die Erde nicht tief genug war. Aber einiges fiel auch auf guten Boden und brachte eine Ernte – dreißigfach, sechzigfach, ja sogar hundertfach.
Ich bin nur froh, dass die Nachbarn des Sämanns ihm nicht sagten, so etwas sei reine Zeitverschwendung – oder er müsse aufpassen, damit der übrige Boden nicht böse werde!
Aber wie steht es denn mit der Frucht aus diesem Saatgut?
„Seht ihr eigentlich Ergebnisse von all dem Papier, das ihr Leute hier so verteilt?“, fragte ein junger Skeptiker.
Meine Kollegin lächelte bei ihrer Antwort. „Nun, schließlich sind Sie ja stehen geblieben, um mit mir zu reden, nicht wahr?“
Was wir an Früchten sehen, ist nur ein Teil der Frucht, die der Herr tatsächlich wirkt.
Durch Gottes Gnade sehen wir Juden für Jesus ein beträchtliches Maß an Frucht von unserer direkten Evangelisationsweise. Wenn Juden das Evangelium ganz offen als Juden verkünden, fällt das jedem auf. Da mangelt es nie an (sowohl jüdischen als auch nichtjüdischen) Leuten, die mehr wissen wollen. Ich bin Gott doppelt dankbar, weil ich weiß: Was wir an Früchten sehen, ist nur ein Teil der Frucht, die der Herr tatsächlich wirkt. Und das gilt nicht nur, wenn Juden für Jesus die Gute Botschaft weitersagen. Das gilt, wenn ein jeglicher Mensch die Rettungsbotschaft Gottes weitergibt.
Ironischerweise werfen Gläubige an Jeschua oft verzweifelt die Hände in die Luft und laufen von ihren evangelistischen Bemühungen weg – sie fühlen sich, als hätten sie gar nichts erreicht. Aber das Problem ist nicht etwa mangelnde Effektivität. Das Problem ist mangelnde Einsicht in Gottes Wirkungsweise.
Einmal bekam ich Post von einem Bekannten – einem jungen Pastor, den ich hier Stefan nennen möchte. Er war eindeutig entmutigt, als er schrieb: „Wir haben evangelisiert, wir haben Leuten das Evangelium gesagt, und wir haben um Rettungen gebetet. Aber seit drei Monaten ist kein einziger Mensch zum Glauben gekommen.“
Unter innigem Mitgefühl konnte ich in meiner Antwort schreiben: „Stefan, wann immer der Inhalt des Evangeliums verkündet wird – sei es durch ein Traktat, eine Predigt, ein Buch, im Radio oder Fernsehen, bei einem Gespräch im Café – wann immer, wo immer und wie immer der Inhalt dieser Botschaft erklärt wird: Gott gebraucht diese Verkündigung stets, um mindestens eines von drei Ergebnissen zu bewirken.“
Und was sind das für Ergebnisse?
Gott gebraucht die Verkündigung des Evangeliums, um im Leben mancher Menschen den Glauben zu bewirken. „Der Glaube [kommt] aus dem Gehörten“, teilt uns Paulus mit; „das Gehörte aber durch Christi Wort“ (Römer 10,17). Dass das stimmt, weiß ich aus meinem eigenen Leben. Schon 1967, als ich noch ein Junge im Teenageralter war, veranlasste Gott einen zerzausten alten Mann, mir ein Traktat zu geben; darauf standen nur die Worte aus Johannes 3,16 geschrieben. Acht Jahre später provozierte Gott mich noch heftiger, als ich ein Traktat von Juden für Jesus erhielt. Der Titel lautete: „Juden sollten NICHT an Jesus glauben – ES SEI DENN…“ Zwischen diesen beiden Traktaten hatte Gott keineswegs geschwiegen. Gespräche und Begegnungen mit Christen summierten sich bis zu jenem Märzabend im Jahr 1977, als sich mein Herz endlich dem Herrn ergab.
Gott gebraucht die Verkündigung seines Wortes auch, um zu spalten.
Gott gebraucht die Verkündigung seines Wortes auch, um zu spalten. Tatsächlich gehört Spaltung sogar zu den allerersten Früchten der Verkündigung. Deshalb sagte Jeschua ja auch, er sei nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Dieses von ihm in Matthäus 10,34 erwähnte Schwert besteht darin, sich auf eine Seite zu stellen – entweder für ihn oder gegen ihn. Wann immer das Wort Gottes offen verkündet und richtig verstanden wird, kommt es zur Polarisierung. Das ist eine biblische Wahrheit. Vor dieser Tatsache dürfen wir nicht zurückschrecken; auch sollten wir diese Ausdrucksweise der Vollmacht von Gottes Wort nicht gering achten.
Die Verkündigung der Evangeliumsbotschaft bringt noch mindestens eine weitere Frucht hervor. Unsere heutige Verkündigung wird Gottes Gerechtigkeit beweisen, wenn er eines zukünftigen Tages die Lebenden und die Toten richten wird. Gott schickte den Propheten Hesekiel zu meinen Vorfahren und befahl ihm, zu uns zu sprechen. Sein Ziel: „Ob sie nun darauf hören oder es bleiben lassen…, sie sollen doch wissen, dass ein Prophet in ihrer Mitte gewesen ist“ (Hesekiel 2,5). Aufgrund von Hesekiels Dienst konnten wir nicht sagen, wir hätten ja nie davon hören können. Die Verkündigung des Evangeliums entreißt den Menschen jede Möglichkeit einer Ausrede. Welch ein bemerkenswerter, ja sogar Ehrfurcht gebietender Gedanke: Gott gebraucht unsere Verkündigung heute, um seinen Charakter zu rechtfertigen, wenn er zu einem späteren Datum die Welt in Gerechtigkeit richtet.
Die Ergebnisse, die wir sehen, sind genau die Ergebnisse, die Gott bewirken wollte. Wir sollten nicht enttäuscht sein.
Die Verkündigung von Gottes Wort trägt immer Frucht. Immer. Darum hat er ja auch gesagt: „So soll mein Wort sein, das aus meinem Mund hervorgeht: Es wird nicht leer zu mir zurückkehren.“ Dann schränkt er allerdings ein: Die von ihm gewirkte Frucht ist jene Frucht, die er haben will. „Es wird ausrichten, was mir gefällt, und durchführen, wozu ich es gesandt habe“, verkündet er (Jesaja 55,11).
Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, wie das Wort fruchtlos bleiben kann. Wenn es nämlich gar nicht erst verkündet wird.
Wir sollten niemals verzweifelt die Hände in die Luft werfen und wie eingeschnappte Kinder „die Klappe halten“, weil wir nicht bekommen haben, was wir wollten. Die Ergebnisse, die wir sehen, sind genau die Ergebnisse, die Gott bewirken wollte. Wir sollten nicht enttäuscht sein. Wir sollten vielmehr dankbar sein für das Vorrecht, von ihm gebraucht zu werden.
„Seht ihr eigentlich Ergebnisse von all dem Papier, das ihr Leute hier so verteilt?“, hatte der junge Skeptiker meine Kollegin gefragt. Ja, das tun wir: die Frucht rettenden Glaubens; die Frucht biblischer Spaltung; und die Frucht der Rechtfertigung vom gerechten Charakter Gottes. Kein Wunder, dass Paulus geschrieben hat: „…Seid fest, unerschütterlich, nehmt immer zu in dem Werk des Herrn, weil ihr wisst, dass eure Arbeit nicht vergeblich ist im Herrn“ (1. Korinther 15,58).