Das Laubhüttenfest war zu Ende. Die Volksmengen hatten sich zerstreut. Leute, die aus den weiter entfernt liegenden Gegenden nach Jerusalem angereist waren, machten sich auf den Heimweg. Die Sukkahs (Laubhütten) wurden weggeräumt – genau wie die ordentlich durchgeschüttelten Lulavs (Feststräuße), die bei der Freudenfeier zerknickt und gebrochen waren. Jerusalem fand langsam wieder zu seinem geschäftigen Alltagsrhythmus zurück. Aber man redete noch immer von dem spektakulären Licht, das im Tempel geleuchtet und sein Glühen über die ganze Stadt geworfen hatte.

„…damit das Wirken Gottes an ihm offenbar würde.“

Dem Mann, der dort am Eingang des Tempel-Vorhofes saß, fiel es allerdings schwer, diese Unterhaltungen zu verstehen. Er hatte die riesigen Leuchter noch nie in die Nacht hinausstrahlen sehen. Noch nicht einmal Feuer hatte er je gesehen, obwohl er dessen Wärme gespürt und dessen Prasseln gehört hatte. Denn dieser Mann war blind zur Welt gekommen. „Ich war blind, als das Fest angefangen hat, und jetzt ist es vorbei, und blind bin ich immer noch“, dachte er. „Und so wird es wohl auch bis ans Ende meiner Tage bleiben. Immer werde ich hier sitzen und um ein paar armselige Münzen betteln müssen.“ Er nickte in die Richtung, wo er jemanden in den Tempel gehen hörte. „Der Herr segne dich“, sagte er zum Wind. Später am selben Tag hörte der Blinde eine Gruppe von Menschen herankommen. Vor ihm blieben sie stehen, und er hörte jemanden fragen: „Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ Unser Bettler stählte sich in Erwartung der Antwort. Er würde es bestimmt nicht aushalten, sollte dieser Rabbi irgendetwas über seine Eltern sagen. Die hatte er doch lieb; und sie hatten ihm stets Mitgefühl entgegengebracht – obwohl sie bestimmt enttäuscht darüber sein mussten, dass ihr Kind…nun ja, gebrochen war. Während ihm noch diese Gedanken durch den Kopf gingen, hörte er die Antwort des Rabbi: „Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern; sondern dazu ist es geschehen, damit das Wirken Gottes an ihm offenbar würde.“

Der Bettler war verblüfft; dann kam ihm ein weiterer Gedanke. Aber er fürchtete sich zu sehr, ihn auszusprechen: „Das muss dieser Mann namens Jesus sein!“

Schon seit Wochen hatte er von Jesus tuscheln und flüstern hören. Vor dem Bettler redeten die Menschen ganz offen. Sie nahmen scheinbar an, nur weil er nichts sehen könne, sei auch mit seinem Gehör etwas nicht so ganz in Ordnung. Deshalb hatte der Blinde eine ganze Menge gehört. Einige hatten Jesus als verrückt oder verlogen bezeichnet. Aber viele andere sagten, er sei der Prophet, der da kommen sollte: Er sei der Messias, der Gesalbte.

Der Lehrer fuhr fort – gerade so, als wolle er die unausgesprochene Frage des Blinden („Wer bist du?“) beantworten. Leise sagte er: „Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“

Nach diesen Worten hörte der Blinde, wie jemand auf den Boden spuckte; dann spürte er Hände, die fest und dennoch sanft etwas auf seine Augen rieben, was wie Tonerde roch und sich auch so anfühlte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sich der Bettler diesen Händen sicherlich entwunden; aber jetzt saß er regungslos da, bis der Mann noch einmal das Wort ergriff und sagte: „Geh hin, wasche dich im Teich Siloah.“

„Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“

Schweigend erhob sich der Bettler auf die Füße und stolperte in Richtung des Teiches. Dort angekommen, kniete er nieder, atmete tief durch und fing an, seine Augen mit Wasser auszuspülen. Und als er den Brei aus Tonerde abwusch, war ihm, als wische er eine Finsternis weg. Das erste, was er sah, war Licht – verschwommen in seinen Tränen…

Johannes (ein jüdischer Mann aus dem ersten Jahrhundert, der an Jesus glaubte) hat dieses Sukkot-Wunder aufgezeichnet.1
Dass Jesus den Blinden heilte, schockierte die Leute damals – und zwar nicht nur, weil die Tat schon an sich so erstaunlich war. Auch mit dem Zeitpunkt dieser Tat hatte es seine ganz besondere Bewandtnis. Es ist kein Zufall, dass Jesus dieses Wunder unmittelbar nach dem Laubhüttenfest (Sukkot) vollbracht hat. Er gebrauchte nämlich sowohl die Heilung als auch den heiligen Festtag, um ein paar weltenerschütternde Aussagen über seine eigene Person zu machen. Jahrtausende später kämpfen immer noch Menschen mit der Bedeutung dieses Wunders. Was meinte Jesus mit der Aussage, er sei das „Licht der Welt“? Um das herauszufinden, wollen wir die Geschichte von Sukkot etwas näher betrachten. Wie wurde dieses Fest in der Zeit Jesu gefeiert? Und was für eine Bedeutung hat Licht in der hebräischen Heiligen Schrift?

Sukkot – Feier der Gegenwart und der guten Gaben Gottes

Seit Adams und Evas drastischer Entscheidung im Garten Eden lebt die Menschheit im Exil außerhalb der unmittelbaren und engvertrauten Gegenwart Gottes. Dann berief Gott den Abraham und verhieß ihm, seine Nachkommen zu einem großen Volk zu machen – zu einem Volk, durch das alle anderen Völker gesegnet werden sollten (1. Mose 12). Die Patriarchen unseres Glaubens führten ein Nomadenleben.2 Sie wohnten in provisorischen Unterkünften (hebr. Sukkot) und blickten voraus zu jener Zeit, da Gott ihnen ein Land geben und sie ins Paradies zurückbringen würde – ganz so, wie er es verheißen hatte. In gleicher Weise lebten auch ihre Nachfahren beim Auszug aus der ägyptischen Knechtschaft während der vierzigjährigen Wüstenwanderung in solchen Sukkot.

Zeichen seiner Gegenwart bei seinem Volk.

Obwohl sie vierzig Jahre lang in dermaßen dürftigen Laubhütten wohnten, versorgte Gott sein Volk beständig mit Erinnerungen an seine aufmerksam-wachsame Fürsorge: Die Wolkensäule bei Tag und die Feuersäule bei Nacht waren Zeichen seiner Gegenwart bei seinem Volk. Auch machte Gott sich ein Heiligtum inmitten des Volkes: die Stiftshütte (auch „Zelt der Zusammenkunft“ oder „Zelt der Begegnung“ genannt), ein Ort, an dem die Israeliten durch Opfer mit ihrem Gott versöhnt werden konnten. Jawohl, vierzig Jahre lang sind wir herumgewandert. Aber wir wanderten nicht allein.

Gott hat das Sukkot-Fest eingesetzt, damit wir uns an seine damalige Gegenwart in unserer Mitte erinnern sollten und uns jubelnd über seine Fürsorge freuen würden:

Rede zu den Kindern Israel und sprich: Am fünfzehnten Tag dieses siebten Monats ist das Fest der Laubhütten sieben Tage dem HERRN. … Wenn ihr den Ertrag des Landes eingesammelt habt, sollt ihr das Fest des HERRN feiern sieben Tage; am ersten Tag soll Ruhe sein, und am achten Tag soll Ruhe sein. Und ihr sollt euch am ersten Tag Frucht von schönen Bäumen nehmen, Palmzweige und Zweige von dicht belaubten Bäumen und von Bachweiden, und sollt euch vor dem HERRN, eurem Gott, freuen sieben Tage. … In Laubhütten sollt ihr wohnen sieben Tage; alle Einheimischen in Israel sollen in Laubhütten wohnen, damit eure Geschlechter wissen, dass ich die Kinder Israel in Laubhütten habe wohnen lassen, als ich sie aus dem Land Ägypten herausführte. Ich bin der HERR, euer Gott. (3. Mose 33,34.39-43)

Trotzdem blickt das Sukkot-Fest nicht nur zurück in die Vergangenheit. Es bietet uns auch einen kleinen Einblick in jene künftige Zeit, da Gottes Verheißung an Abraham erfüllt sein wird und alle Völker der Welt durch eben das Volk, das er zuerst auserwählt hat, Segen empfangen werden. Eine bestimmte Schlüsselpassage der Heiligen Schrift spricht von dieser kommenden Zeit:

Und es wird geschehen, dass alle Übriggebliebenen von allen Nationen, die gegen Jerusalem gekommen sind, Jahr für Jahr hinaufziehen werden, um den König, den HERRN der Heerscharen, anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern. (Sacharja 14,16)

Ein Vorgeschmack auf eine noch größere Freude.

Laut Bibel ist jene Freude, die wir an Sukkot erleben, lediglich ein Vorgeschmack auf eine noch bevorstehende, noch größere Freude. „Tatsächlich weist der gesamte Symbolismus dieses Festes (angefangen mit der vollständig eingebrachten Ernte, für die es eine Dankesfeier war) in die Zukunft. Das räumen sogar die Rabbiner selbst ein.“3

Sukkot in der Zeit Jesu

Die Menschen, die zu Jesu Zeit lebten, erkannten durchaus die prophetische Signifikanz dieses Festes; daher enthielten auch die damals zelebrierten Zeremonien einige prophetische Hinweise. Zu den großartigsten dieser Rituale gehörte die Tempel-Illumination.

Mit den Jahren war der Tempel zum Zentrum der Sukkot-Feier geworden. Tatsächlich wählte König Salomo das Laubhüttenfest sogar als Zeitpunkt für die Einweihung des Ersten Tempels. Während das Volk feierte, wurde der Tempel von Gottes Schechinah-Herrlichkeit erfüllt. Gott erwies seine Güte und Gnade, indem er erneut herabkam, um mitten unter seinem Volk zu wohnen – ganz so, wie er es bereits in der Wüste getan hatte.

Jahre später wurde allerdings die Bundeslade geraubt, und die Herrlichkeit des Herrn verließ den Tempel. Trotzdem blieb der Tempel dank prachtvoller Zeremonien wie etwa der Tempel-Illumination das Zentrum des Festes.

Laut Mischna standen im Frauen-Vorhof vier Leuchter, die jeweils gut 25 Meter hoch waren. Jeder Leuchter hatte vier Arme, und am Ende eines jeden Armes befand sich eine riesige Schale. Mit Ölkrügen in der Hand stiegen vier junge Männer auf Leitern, um die goldenen Schalen zu füllen und zu entzünden. Jeder dieser Krüge fasste gut 36 Liter.

Stellen Sie sich sechzehn prächtig strahlende Stichflammen vor, die aus diesen goldenen Riesenlampen gen Himmel lodern. Bedenken Sie auch, dass der Tempel auf einem Hügel stand, sodass das herrlich helle Leuchten für die gesamte Stadt ein atemberaubender Anblick war. Dieses Licht sollte das Volk daran erinnern, wie Gottes Schechinah-Herrlichkeit einst seinen Tempel erfüllt hatte. Außerdem blickte es voraus zu einer Zeit, da eben jene Herrlichkeit zurückkehren würde.

Und genau diese Zeit der zurückkehrenden Herrlichkeit wurde mit dem Kommen des Messias in Verbindung gebracht:

Diese Festfreude, deren Ursprung im Dunkeln liegt, stand zweifellos mit der Hoffnung auf die große Ernte der Erde in Verbindung – d.h. mit der Freude über die Bekehrung der Heidenwelt. So wies sie voraus zu den Tagen des Messias.4

Man glaubte, dass in der Zeit des Messias alle Völker Gott anbeten werden – übereinstimmend mit der Prophetie im Buch Sacharja und mit der Verheißung Gottes an Abraham, dass in ihm alle Völker der Welt gesegnet werden sollten. Das jüdische Volk in der Zeit Jesu wartete mit großer Vorfreude auf diesen Tag. Bei der Tempel-Illumination jubelten die Menschen voll Freude über ein viel größeres Licht, das noch kommen sollte.

Das Licht der Welt

Und genau das war die Szene, die Jesus betrat. Vor der Begegnung mit dem Blinden hatte Jesus (recht kurz nach der Illuminations-Zeremonie) im Frauen-Vorhof gelehrt. Vielleicht stand er sogar direkt neben diesen prachtvollen Leuchtern, als er allen dort Versammelten verkündete: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Johannes 8,12).

Licht war schon immer ein Zeichen der Offenbarung Gottes und seiner Gegenwart.

Und genau das war die Szene, die Jesus betrat. Licht war schon immer ein Zeichen der Offenbarung Gottes und seiner Gegenwart. Vom brennenden Dornbusch, dem Mose begegnete, über die Feuersäule, der die Israeliten folgten, bis hin zur Schechinah-Herrlichkeit, die einst im Tempel ruhte: Die Gegenwart von Licht wird schon seit langem mit der Gegenwart Gottes gleichgesetzt.

Und somit wurde Licht auch mit dem Messias, dem Gesalbten Gottes assoziiert:

Doch nicht bleibt Finsternis dem Land, das Bedrängnis hat. In der ersten Zeit hat er das Land Sebulon und das Land Naphtali verächtlich gemacht; und in der letzten bringt er zu Ehren … [das Galiläa der Heiden]. Das Volk, das im Finstern wandelt, hat ein großes Licht gesehen; die da wohnen im Land des Todesschattens, Licht hat über ihnen geleuchtet. Du hast die Nation vermehrt, hast ihr groß gemacht die Freude; sie freuen sich vor dir, gleich der Freude in der Ernte… (Jesaja 8,23 – 9,2)

Das Licht sollte ja die Gegenwart Gottes symbolisieren. An jenem Tag dort im Tempel sagte Jesus, dass er selber die Gegenwart Gottes war – an Ort und Stelle, mitten unter dem Volk. Gleichzeitig verkündete er damit auch, dass er der Messias war. Er war eben jenes Licht, auf das die Menschen warteten.

Wenige Tage, nachdem Jesus im Frauen-Vorhof diese umwerfenden Worte gesprochen hatte, schenkte er einem Blinden das Augenlicht. Wer aus dem Volk seinen Worten zugehört hatte und mit den Schriften vertraut war, war von diesem Wunder vielleicht gar nicht so überrascht. Schließlich hatte Jesus ja schon früher in seinem Dienst die Worte aus Jesaja 61 zitiert und auf sich selbst angewandt:

„Der Geist des Herrn ist auf mir,

weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen;

er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen

und Blinden das Augenlicht…“ (Lukas 4,18)

Die Bedeutung der Worte und Taten Jesu entging dem Volk wahr und wahrhaftig nicht. Einige entschieden sich zum Annehmen seiner Rede und glaubten daran, dass er der Messias war. Andere entschieden sich, ihn abzulehnen und zu fragen: „Was für ein Messias könnte denn wohl schon aus Galiläa kommen?!“ Offenbar hatten sie sich dafür entschieden, die oben zitierte Prophetie Jesajas zu ignorieren. Denn woher sollte der Messias, das Licht der Welt, laut dessen Aussage kommen?

Zum Abschluss

Es gibt verschiedene Arten von Blindheit. Da ist zunächst eine physische Blindheit, die sich nach physischem Licht sehnt; und dann ist da auch noch eine weitere Art von Blindheit, bei der man die Augen vor allem verschließt, was man nicht glauben will. Wenn Sie sich die Berichte über das Leben und den Tod Jesu anschauen, werden Sie feststellen: Er ist gekommen, um beide Arten der Blindheit aufzuheben.

Die religiöse Führerschaft in den Tagen Jesu lehnte jeglichen Glauben an dieses Sukkot-Wunder ab.

…eins weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehe.

Sie riefen nun zum zweiten Mal den Menschen, der blind war, und sprachen zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass [Jesus] ein Sünder ist. Da antwortete er: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht; eins weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehe. … Und sie schmähten ihn und sprachen: Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses Jünger. Wir wissen, dass Gott zu Mose geredet hat; von diesem aber wissen wir nicht, woher er ist. Der Mensch antwortete und sprach zu ihnen: … Von Ewigkeit her ist nicht gehört worden, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen aufgetan hat. Wenn dieser nicht von Gott wäre, könnte er nichts tun. (Johannes 9,24-33)

Was der religiösen Führerschaft entgangen war, hatte ein blinder Bettler gefunden. „Für ihn war der Tag gekommen, an dem er als Ernte eingebracht wurde.“5 Für ihn war die Freude des Laubhüttenfestes eine persönliche Realität; denn er war in der Gegenwart vom Licht der Welt gewesen.

Übersetzung: Lars Kilian

  1. Johannes 9,1-11.
  2. Und Jakob brach auf nach Sukkot und baute sich ein Haus, und seinem Vieh machte er Hütten; darum gab er dem Ort den Namen Sukkot (1. Mose 33,17).
  3. Edersheim, Alfred, The Life and Times of Jesus the Messiah (Grand Rapids: Eerdmans, 1976), S. 149. [Übers. dieses Zitats für den vorliegenden Artikel: L.K.]
  4. Ebenda, S. 165. [Übers. dieses Zitats für den vorliegenden Artikel: L.K.]
  5. McQuaid, Elwood, The Outpouring (New Jersey: Friends of Israel 1990), S. 11. [Übers. dieses Zitats für den vorliegenden Artikel: L.K.]