Die Wunder von Passah
Anmerkung: Auf Englisch erstmals am 01. April 1988 veröffentlicht. Am Passahfest singen wir Juden gerne ein besonderes Lied namens „Dayenu“. Das ist Hebräisch und bedeutet „Es genügt uns“ oder „Es ist genug für uns“.
„Dayenu! Es ist wahrhaftig genug!“
Dieses freudige Lied erzählt von den Wundern, die Gott für uns tat, als er uns mit starker Hand und ausgestrecktem Arm befreite – als er uns aus Ägypten heraus-, durch die Wüste hindurch- und ins Verheißene Land hineinführte. Mit Blick auf all diese Wunder seiner Vorsehung, Fürsorge und Verteidigung zu unserem Schutz rufen wir: „Dayenu! Es ist wahrhaftig genug!“
Das erste Passahfest sowie der Bericht vom Auszug aus Ägypten bilden Episoden in unserer Geschichte und unserem Erbe, die eindeutig vom machtvollen Handeln Gottes durchsetzt sind. Beim Singen erinnern wir uns an die Zehn Plagen, die Teilung des Roten Meeres, die Vernichtung der Verfolger, die Versorgung mit Wachteln und Manna in der Wüste und die Übergabe des Gesetzes durch die Berührung von Gott persönlich auf dem Berg Sinai. In dieser Zeit ereigneten sich jedoch noch weitere Wunder – Wunder, die nicht weniger tiefgreifend sind, die aber unabsichtlich übersehen oder ausgeblendet werden.
Das erste dieser Wunder hat mit der letzten der Zehn Plagen zu tun, durch die Gott das Land Ägypten heimsuchte: die Tötung der Erstgeborenen. Um den Qualen dieser Plage zu entgehen, mussten wir Israeliten ein fehlerloses Lamm schlachten und dessen Blut an die Türpfosten unserer Häuser streichen. Das war unser Anteil. Und der Anteil Gottes? „Das Blut soll euch zum Zeichen dienen an euren Häusern, in denen ihr seid. Und wenn ich das Blut sehe, dann werde ich verschonend an euch vorübergehen; und es wird euch keine Plage zu eurem Verderben treffen, wenn ich das Land Ägypten schlagen werde“ (2. Mose 12,13).
Was für ein Wunder das doch war! Nicht nur, dass Gott ein übernatürliches Gerichtshandeln vollzog. Er wirkte auch in unserem Herzen, sodass wir auf seine Warnung hörten und gehorchten! In 2. Mose 12,28 lesen wir: „Und die Kinder Israels gingen hin und machten es so; wie der HERR es Mose und Aaron geboten hatte, genau so machten sie es.“ Traurigerweise wäre es für uns nur allzu leicht gewesen, der Stimme des Herrn nicht zu glauben. Denken Sie doch einmal an die Gründe, die uns vom Glauben hätten abhalten können. Denken Sie an die Gründe, die uns – ja, uns alle – hier und heute von Vertrauen und Gehorsam ihm gegenüber abhalten.
Von Natur aus neigen wir alle von vornherein dazu.
Erstens klingt Vertrauen auf Gott und Gehorsam gegenüber seiner Stimme unglaublich; anders ausgedrückt, klingt es nicht glaubhaft; anders ausgedrückt, klingt es nach einem Mangel an Glaubwürdigkeit oder Plausibilität. Kurz, es klingt einfach nicht nach einer natürlichen, logischen Handlungsweise. Von Natur aus neigen wir alle von vornherein dazu, lieber auf unser eigenes Bemühen und unseren eigenen Verdienst zu vertrauen als auf Gottes Liebe und Erbarmen.
Die Annahme, Gott könnte ganz aktiv in unsere Umstände eingreifen, klingt schlicht unglaublich. Und wenn wir dann durch sein Wort daran erinnert werden, dass er durchaus eingreifen wird, und wenn wir gar seine Anweisungen erhalten: Wie oft bleiben wir (zu unserem eigenen Schaden) trotzdem auch weiterhin ungläubig und ungehorsam?!
Vertrauen auf und Glauben an Gott klingt nicht nur unglaubhaft, sondern erscheint lächerlich – nicht nur für uns, sondern auch für diejenigen, deren Wertschätzung wir uns wünschen. Können Sie sich vorstellen, wie lächerlich und lachhaft es für einen freundlichen Ägypter ausgesehen haben muss, als er bei einem hebräischen Freund vorbeikam, der gerade das Blut des Lammes an die Türpfosten streichen wollte? Wenn so ein Ägypter nun gefragt hätte: „Was machst du denn da?“
Hätte der Israelit mit Gottes lebensrettender Botschaft geantwortet? Das wollen wir hoffen; denn Gottes Fürsorge hätte wahrlich jedes Haus umfasst, wo man sich für Vertrauen und Gehorsam entschieden hatte. Sollte sich eine derartige Szene allerdings zugetragen haben, wäre es durchaus möglich, dass der Israelit geschwiegen hätte – aus Angst, seine Erklärung könnte lächerlich erscheinen. Dann hätte er in den Augen seines ägyptischen Freundes ja selber lächerlich gewirkt, weil er einer solchen Geschichte glaubte. Das hätte der Israelit zumindest denken können. Wie leicht der Hochmut des Lebens und die Sehnsucht nach hoher Anerkennung durch unsere Zeitgenossen uns doch davon abhalten, auf denjenigen zu vertrauen und demjenigen zu glauben, der sogar den Spatz vom Himmel fallen sieht!
Durch Gehorsam wird der Gehorchende anders.
Ein letzter Grund hätte die Israeliten vom Gehorsam gegenüber den Anweisungen Gottes abhalten können: die Tatsache, dass Gehorsam Gott gegenüber eine Scheidung bewirkt. Durch Gehorsam wird der Gehorchende anders. Das gehört zur Heiligung; denn in gewissem Sinne beinhaltet Heiligung eine Absonderung für Gott. Die Berufung als abgesondertes Volk in der Nachfolge Gottes bedeutet, dass wir uns von jenen Wegen der Welt scheiden müssen, die ihm nicht gefallen. Das wiederum führt manchmal zur Scheidung und Trennung von denjenigen, die aufgrund unserer Hingabe an Gott nichts mehr mit uns zu tun haben wollen. Ablehnung tut immer weh, aber Ablehnung geschieht. Das ist eine geistliche Lebenswirklichkeit.
Beachten Sie: Gott machte die Israeliten zu unwillkommenen Fremdlingen in den Augen der Ägypter. „Und [der Pharao] rief Mose und Aaron zu sich in der Nacht und sprach: Macht euch auf und zieht weg von meinem Volk, ihr und die Kinder Israels, und geht hin…“ (2. Mose 12,31). Sogar, wenn die Israeliten zu diesem Zeitpunkt lieber geblieben wären, wären sie nicht gerade willkommen gewesen! Gott hatte sozusagen alle Brücken hinter uns abgebrochen. Man konnte nur noch in eine einzige Richtung gehen: Hinaus!
So wirkte Gott in unseren Herzen, und wir glaubten. Wir vertrauten und gehorchten, und Gott erlöste uns. Was für ein Wunder! Dayenu!
Allerdings ist mit dem Auszug noch ein weiteres Wunder verwoben, das ebenfalls im Halbdunkel bleibt, vernachlässigt oder gar völlig übersehen wird. Es ereignete sich, als die Israeliten am Roten Meer standen und die ägyptischen Verfolger ihnen dicht auf den Fersen waren. Mose verkündete: „Steht still und seht die Rettung des HERRN“ (2. Mose 14,13). Dann streckte er seinen Stab aus, die Wasser teilten sich, und wir durchquerten trockenen Fußes das Meer. Und als die Streitwagen des Pharao hinterherfuhren, streckte Mose erneut seinen Stab aus – und die Wasser stürzten über den Verfolgern zusammen. Diese beiden Ereignisse sind ja nun schon an und für sich bemerkenswerte Wunder.
Es war nämlich wahrlich ein Wunder des Glaubens nötig.
Allerdings ereignete sich zwischen Teilung und Zusammenschlagen der Wellen noch ein weiteres Wunder, das weniger wahrgenommen wird: Es war nämlich wahrlich ein Wunder des Glaubens nötig, damit die Israeliten überhaupt auf dem freigewordenen Meeresgrund losmarschierten! Es war wahrlich ein Wunder des Glaubens nötig, um darauf zu vertrauen, dass diese riesigen Wasserwälle zu beiden Seiten (die entgegen aller Naturgesetze auf übernatürliche Weise geteilt und aufrecht gehalten wurden) nicht plötzlich zusammenschlagen und uns ersäufen würden, bevor wir die Sicherheit des gegenüberliegenden Ufers erreicht hatten.
Ganz gewiss bedurfte es einer wundersamen Handlung des Vertrauens und des Glaubens, um diesen von den geteilten Wassern freigegebenen Pfad zu gehen. Die Bibel deutet gar an, dass die Israeliten bei diesen Schritten recht unsicher waren – dass man sie ein wenig vorwärtstreiben musste. Wir lesen nämlich Gottes Worte an Mose: „Was schreist du zu mir? Sage den Kindern Israels, dass sie aufbrechen sollen“ (2. Mose 14,15). Gott bewegte unsere Herzen, motivierte uns zum Losgehen und manövrierte uns sicher auf die andere Seite. Was für ein Wunder! Wahrlich – Dayenu!
Und noch ein weiteres Wunder in dieser Periode der jüdischen Geschichte wird angesichts der eher „spektakulären“ Ereignisse leicht übersehen. In 2. Mose 19,5-8 lesen wir: „Wenn ihr nun wirklich meiner Stimme Gehör schenken und gehorchen werdet und meinen Bund bewahrt, so sollt ihr vor allen Völkern mein besonderes Eigentum sein; denn die ganze Erde gehört mir, ihr aber sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein! … Da antwortete das ganze Volk miteinander und sprach: Alles, was der HERR gesagt hat, das wollen wir tun!“
Das Wunder besteht nicht etwa darin, dass wir unsere Verpflichtung Gott gegenüber gehalten hätten; das haben wir nämlich ganz und gar nicht getan. Das Wunder ist vielmehr folgendes: Während wir alle nur zu untreu gegenüber Gott sind, ist er dennoch uns gegenüber ewig treu, „denn seine Gnade währt ewig“ (Psalm 136).
Nicht nur, dass Gott sein von alters her auserwähltes Volk in Treue bewahrt hat. Genauso treu hat er auch seine Verheißung des Heils an alle Völker durch den Messias Jeschua (Jesus) erfüllt – den Samen, durch den laut Gottes Verheißung an Abraham alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollen (1. Mose 12,3). Und wegen Gottes Rettung durch den Messias Jeschua können wir alle rufen: „Dayenu! Es ist wahrhaftig genug!“
Jetzt reden wir schon so lange davon, was genug war und ist. Da kann es nicht schaden, wenn wir abschließend noch kurz betrachten, was nicht genug ist. Was, wenn die Israeliten den Anweisungen Gottes nicht geglaubt und das Blut des Lammes nicht an ihre Türpfosten gestrichen hätten? Hätte Gott dem Todesengel gestattet, die Erstgeborenen in unseren Häusern zu erschlagen, wenn wir das Blut nicht angebracht hätten? Wenn nun der Erstgeborene in einem bestimmten Haus ein wunderbarer Mensch gewesen wäre? Ein brillanter Mensch? Ein liebevoller Mensch? Was, wenn er ein alter Mann gewesen wäre, der Gott aufrichtig liebte – jedoch all diesen Kram mit Lammblut an der Tür für übermäßig dramatisch oder zu wenig plausibel hielt? Hätte der Todesengel ihn erschlagen? Jawohl.
Rettung war abhängig von Glauben und Gehorsam.
Rettung war nicht abhängig von Unschuld, Unwissenheit oder vergangenen Verdiensten. Rettung war abhängig von Glauben und Gehorsam. Hätten wir uns auf Unschuld verlassen, hätten wir auf Unwissenheit plädiert, hätten wir auf unser Verhalten in der Vergangenheit vertraut – so wäre nichts davon genug gewesen. Dann hätten wir niemals rufen können: „Dayenu!“
Und wie war es in dem Augenblick, als wir am Ufer des Roten Meeres standen? Was, wenn wir nichts weiter getan hätten, als „still zu stehen und das Heil Gottes zu sehen“? Was, wenn wir nicht aufgebrochen wären, wie Gott uns befohlen hatte? Wir wären zugrunde gegangen. Wie viele von uns gehen doch heute durchs Leben, indem wir lediglich sehen und das Heil Gottes bloß betrachten?! Es ist kein Zufall, dass der Name des Messias auf Hebräisch „Jeschua“ lautet – das heißt „Gott rettet“.
Wir tun gut daran, über die Rettung durch Gott nachzudenken – sowohl über die Errettung Israels aus der Sklaverei in Ägypten als auch über die Errettung der gesamten Menschheit aus der Sklaverei unter Sünde und Tod.
Es ist das eine, Jeschua lediglich zu sehen. An Jeschua zu glauben und ihn zu umfassen, ist allerdings etwas ganz anderes. Wenn wir aber motiviert sind, zu glauben und auf die Anwendung und Wirksamkeit vom Blut des Lammes Gottes zu vertrauen – wenn wir erst einmal motiviert sind, aufzubrechen und vom Tod am einen Ufer zum Leben am gegenüberliegenden Ufer hinüberzuziehen: Dann können wir wirklich rufen: „Dayenu! Es ist wahrlich genug!“