Die geheimnisvollen “Wir und Die“
Dieses ist der zweite Teil einer Serie von drei Zeugnisse.
Wir hatten einen koscheren Haushalt und feierten alle jüdischen Feiertage.
Ich wurde am 21. Juni 1947 in London, England geboren. Meine Grosseltern stammten aus Russland (väterlicherseits) und Polen (mütterlicherseits) und kamen um die Jahrhundertwende (um 1900) in England an. Ich habe einen Bruder, der vier Jahre älter ist als ich.
Seit meinem fünften Lebensjahr besuchte ich Schabbat Gottesdienste und Hebräisch Unterricht. Wir hatten einen koscheren Haushalt und feierten alle jüdischen Feiertage. Mein Lieblingsfeiertag war Pesach, weil alle Verwandten meiner Mutter dann zum Seder zu uns kamen. Mein Onkel, der älteste Mann, sass am Ende des Tisches, an ein grosses Kissen gelehnt. Die Frauen waren meistens in der Küche, wo sie Grossmutter beim Kochen halfen. Während des Lesens der Haggadah steckte Grossmutter dann ihren Kopf aus der Küchentür und fragte im flüsternden Ton einer Souffleuse: “Nu, nu? Wie lange noch? Das Essen ist fertig.” Ich erinnere mich an das Jahr, in dem es zum erstenmal an mir, als dem jüngsten Kind, war, die vier Fragen zu stellen. Ich hatte geübt und traute mir zu, die Fragen ohne zuviel Stolpern lesen zu können. Ich war gerade dabei, die richtige Seite zu finden, da hörte ich einen von den Onkeln sagen: “Michael, los, fang an.” Michael war ein jüngerer Cousin, und daher technisch der Jüngste am Tisch. Ich war im Stillen wütend, aber ein kleiner Trost war, dass ich gebeten wurde, die Tür zu öffnen. Vielleicht würde dieses Jahr wirklich Elias erscheinen?
Wer ist der kleine Herr Pom-pom*?
Im Dezember meines ersten Schuljahres lernten wir einige Lieder in unserer Klasse. Ich hatte keine Idee, was Weihnachtslieder bedeuteten, und eines Tages kam ich nach Hause und sang eins von diesen Liedern meiner Mutter vor. “Wer ist der kleine Herr Pom-pom?” fragte ich. Meine Mutter musste erst einen Moment nachdenken, bevor sie verstand, dass ich von Jesus sprach. Ihre Antwort beeinflusste meine darauffolgenden Lebensjahre: “Das ist etwas, woran “die” glauben. Und so begann die Mysterie von “wir” und “die.”
“Das ist etwas, woran “die” glauben
Mein Bruder wurde bar mitzvah und härte dann auf, schul zu besuchen. Eine bat mitzvah gab es zu der Zeit nicht. Unsere Familie zog um, in eine Nachbarschaft mit grösserem jüdischen Einschlag. Mir gefiel die neue schul nicht. Ich hatte inzwischen die Aufnahmeprüfung an einer begehrten öffentlichen Mädchenschule bestanden. Fälschlicherweise war ich dort als katholisch eingetragen worden. Alle, ausser den jüdischen Schülern, mussten dem wöchentlichen Gottesdienst beiwohnen. Es war die Anglikanische Kirche, und alles war mir fremd. Es war so lanweilig und still. In der schul war es anders: da erreichte das Geschwätz der Frauen oben auf der Galerie oft eine solche Lautstärke, dass die Männer sich unten umdrehten und zischten: “Scha, scha!”
Eines Tages fragte mich meine Lateinlehrerin, indem sie mich über den Brillenrand scharf ansah: “Bist du eine von ‚denen‚?” Inzwischen wusste ich, was sie damit meinte und fühlte mich sehr unbehaglich. Ich murmelte nur: “Ich weiss nicht.” Meine beste Freundin, Pavla, war nichtjüdisch, aber wir sprachen nie über Religion.
Wir hatten immer eine Menge Hausaufgaben, auch am Wochenende, und ich fühlte kein Bedürfnis, schul zu besuchen. Mein Vater, der am Wochenende arbeitete, ermutigte mich zu gehen. Ich war wütend: “Das ist scheinheilig! Wir halten einen koscheren Haushalt, ich gehe in die schul, aber niemand anders in der Familie tut das. Du kannst dir nicht aussuchen, welche Einzelheiten der Religion du einhältst. Entweder alles oder nichts.” Ah, die taktvollen Worte eines Teenagers!
Ich besuchte also nicht mehr die schul, ausser an Yom Kippur. Viele Jahre später gab mein Vater zu, dass er mit mir übereingestimmt hätte, aber dass er dachte, unsere Situation nicht ändern zu kännen.
Du wirst einen netten jüdischen Jungen treffen …
Ich absolvierte die höhere Schule und hatte Pläne, Simultan-Übersetzerin (französisch/englisch) bei einer multi-nationalen Firma zu werden. Meine Mutter war nicht ermutigend: “Warum sich die Mühe machen? Du heiratest einen netten jüdischen Jungen, bekommst Kinder, und bringst uns naches. Ich entschied mich für ein Universitätsstudium, fand die Französisch-Klassen schrecklich, und musste Mandarin Chinesisch nehmen. Dann brach ich das Studium ab, nahm einige Buchhaltungs- und Geschäftskurse und dann eine Stelle als persönliche Assistentin. In diesem Job hörte ich zum erstenmal antisemitische Witze und Bemerkungen.
Da meine Eltern darauf bestanden, die Jungen, mit denen ich ausging, kennenzulernen, ging ich zum grössten Teil mit Juden aus. Aber ab und zu traf ich mich heimlich mit einem nichtjüdischen Freund.
Eines Tages sah ich eine Annonce für Jobs in New York. Ich wollte schon lange nach Amerika gehen.
Eines Tages sah ich eine Annonce für Jobs in New York. Ich wollte schon lange nach Amerika gehen. Die Firma würde die einfache Reisekarte bezahlen und mir ein Arbeitsvisum verschaffen. Von 200 Applikanten wurden fünf angenommen, und ich war darunter. Ich füllte die Papiere aus, ohne meinen Eltern etwas davon zu sagen. Eines Schabbatabends platzte ich damit in taktloser Weise hervor indem ich sagte: “Ihr müsst mir diese Papiere unterschreiben. Wenn nicht, kann ich es auch selbst tun, wo ich ja bald 21 bin.” Der erwartete empörte Chor hub an, beschwichtigt von den beruhigenden Tönen meines Bruders und dessen neuer Ehefrau.
Am 1. Juli 1968 kam ich in New York an. Ich kannte niemand ausser der Frau, die mich angestellt hatte. Ich beabsichtigte, ein Jahr zu bleiben. Allmählich lernte ich Leute kennen, wurde zu Partys eingeladen, und war überrascht, wenn ab und zu ein Mann beiläufig bemerkte, dass er Jude sei. Das war in England nicht üblich gewesen.
So viel mehr zu sehen …
Die Zeit verging, und es war fast Zeit für meine Rückreise nach England. Aber ich wollte unbedingt mehr von Amerika sehen. Eine Bekannte** erklärte sich bereit, mich zu begleiten. Wir starteten im März 1969 und reisten durch die Vereinigten Staaten, sahen wunderschöne Küsten, trafen interessante Leute, und hatten viele Abenteuer. An einem Samstag im August 1969 lud uns eine nette Frau namens Shar ein, in ihrem Heim im Westen von Washington zu übernachten. Wir wurden mit ihren Mann und ihren zwei Kindern bekanntgemacht, und später am selben Abend kam ihr Bruder, Jim, mit seiner Frau zu Besuch. Jim besuchte eine Bibel-Schule und erklärte mir, dass ich “Christus annehmen müsste, damit ich gerettet werden könne.” Obwohl ich keine Ahnung hatte, wovon er redete, sagte ich ihm, dass ich nicht daran interessiert sei.
Am nächsten Morgen wurden wir von den zwei Kindern geweckt, die auf uns in unseren Schlafsäcken im Wohnzimmer herumsprangen. “Wir gehen heute in die Kirche!” kündigten sie fröhlich an. Aus Höflichkeit boten wir an, die Familie zu begleiten.
“Ich wundere mich, ob jemand heute hier ist, der alles in dieser Welt hat, und doch nichts hat.”
Das Kirchenerlebnis war, wie ich erwartet hatte, langweilig. Wir sangen ein paar Kirchenlieder, der Chor sang, und einige Ankündigungen wurden gelesen. Ich wunderte mich, was wohl mit “pot luck” gemeint war, denn davon hatte ich noch nie gehört. Dann stand der Pastor auf um zu reden, und ich nahm mir vor, mit offen Augen dahinzuträumen, da nichts von seiner Predigt für mich relevant sein würde. Er würde zu “denen” sprechen. An einer Stelle zeigte er mit dem Finger auf mich in der hinteren Reihe (oder so kam es mir vor) und sagte: “Es wundert mich, ob irgendjemand heute hier ist, der einsam ist.” “Nicht ich,” dachte ich. Aber ich wusste, dass ich seit High School niemandem erlaubt hatte, zu nahe an mich heranzukommen. Der Pastor fuhr fort: “Ich wundere mich, ob jemand heute hier ist, der alles in dieser Welt hat, und doch nichts hat.” Das gab mir einen Stoss. Ich hatte alles, was ich brauchte: ein Auto in England, einen Mann, der mich heiraten wollte, die Leichtigkeit, mit der ich einen Job bekommen konnte. Was könnte ich noch wollen? Aber ich wusste, dass tief in meinem Innern ein Loch, eine Leere war.
Meine äußere Schale begann, auseinanderzubrechen …
Am Ende des Gottesdienstes warteten wir alle in einer Reihe, um beim Hinausgehen dem Pastor die Hand zu schütteln. Als ich meine Hand ausstreckte, fielen Tränen plötzlich auf die Hand des Pastors. Meine äußere Schale begann auseinanderzubrechen. Der Pastor fragte behutsam, ob ich zurück in die Kirche gehen wollte um zu reden. Ich wollte nicht, tat es aber irgendwie doch. Er fragte: “Wissen Sie, dass Jesus Ihr Freund sein will?” “Hmmm”, murmelte ich. “Wissen Sie, dass er alles über Sie weiss, und dass er Sie trotzdem liebt, so wie Sie sind?” “Hmmm, das ist interessant,” dachte ich. Ich erinnere mich nicht genau, was er dann sagte, obwohl ich mir sicher bin, dass er von Sünde sprach, und von meinem Bedürfnis für einen Erlöser. Schliesslich fragte er, ob ich beten wollte. Ich sagte: “Sicher, wo ist das Gebetbuch?” “Sie brauchen keins,” erklärte er. “Reden Sie nur zu Gott, aus Ihrem Herzen.” Ich faltete meine Arme über der Brust, sah in die Höhe, und sagte: “Gott, ich weiss nicht, wer du bist. Aber ich bin es leid, es allein zu machen, bitte mach du es jetzt.” Pause. “Amen?”
“Gott, ich weiss nicht, wer du bist. Aber ich bin es leid, es allein zu machen, bitte mach du es jetzt.”
Der Pastor meinte, es sei ein guter Anfang. Ich ging nach draußen. Der Anweisung des Pastors folgend. erzählte ich Shar, dass ich Jesus in mein Herz eingeladen hätte, obwohl ich die Implikationen noch nicht verstand. Shar war ekstatisch, führte mich zu einigen von ihren Freunden, und ermutigte mich, ihnen zu sagen, was geschehen war. Ich war überwältigt von der christlichen Terminologie: Du bist gewaschen im Blut des Lammes! Das Blut hat dich gereinigt von Sünde! Eines Tages wirst du ihn im Himmel sehen!
Ich lächelte und nahm ihre Freundschaft und Freude entgegen, obwohl ich noch nicht verstand. Um die Wahrheit zu sagen, war ich eher abgestossen von dem Gedanken an all das Blut; ich erinnerte mich, dass meine Mutter mir beim koschermachen von Fleisch eingeschärft hatte, alles Blut muesse vom Fleisch entfernt werden.
Juden im Neuen Testament
Shars Vater gab mir eine moderne Übersetzung des Neuen Testamentes. Ich lese immer alles, und so öffnete ich das Buch zur ersten Seite. Ich las die Namen im Geschlechtsregister von Jesus und war verblüfft. Ich kenne diese Namen! Was haben sie in “deren” Bibel zu tun? Ich las weiter und kam zu der Stelle, wo Jesus als Zwölfjaehriger in der Synagoge*** war. Könnte es sich dabei um ein ‚bar mitzvah‘ handeln? Beim Weiterlesen ging mir ein Licht auf: Jesus ist Jude! Niemand hatte das je erwähnt. Obwohl ich mir in letzter Zeit meiner jüdischen Identität nicht besonders bewusst gewesen war, war ich auch nicht interessiert daran, eine von “denen” zu werden. Aber ich wusste, dass Elias kommen würde, um den Messias anzukünden. Und jetzt wusste ich, dass Yeshua (Jesus) der Messias war.
Zuerst waren meine Eltern entsetzt über meinen Glauben. Aber sie hörten nicht auf, mich zu lieben, und hiessen sogar meinen Mann willkommen, der Nichtjude war und auch an Jesus glaubte. Kinder folgten, dann Seminar und Missionsruf an die Elfenbeinküste West Afrikas.
Je mehr ich die Bibel las, desto ruhiger wurde ich, was meine jüdische Identität betraf.
Zuerst zögerte ich mich zuzugeben, Jüdin zu sein, wegen früherer schlechter Erfahrungen. Aber je mehr ich die Bibel las, desto ruhiger wurde ich, was meine jüdische Identität betraf. Ich hielt einige Vorträge, leitete ein paar Seder, und es bereitete mir viel Freude, nichtjüdischen Christen über ihre jüdischen geistlichen Wurzeln Aufschluss zu geben. Nachdem wir in den Vereinigten Staaten sesshaft geworden waren, fing ich an, eine messianische Gemeinde und Kirchen zu besuchen, sowie Veranstaltungen in jüdischen Gemeindehäusern. Ich erzähle meinen jüdischen Brüdern und Schwestern meine Geschichte in der Hoffnung, dass auch sie Jesus als ihren versprochenen Messias erkennen werden.
*Translator’s note: This seems to refer to an English Christmas carol and may not be a point of reference for a German audience. For a better understanding, the relevant words of the carol should be inserted here.
** The English words “friend” or “acquaintance” are not gender-specific. Unlike the English language, the German language necessitates gender specification of these words. Not having further information, I decided on a female acquaintance. 😉
*** I realize the author is talking about the finding of the twelve year-old Jesus in the Temple. But I stayed true to her account and did not change her word “synagogue.”