Geschichten, die Juden über sich selbst erzählen
Wir alle kennen die jüdische Geschichte. So ungefähr wenigstens. Sie fängt an mit Abraham, Isaak, und Jakob.
Danach kommt die Ägyptische Sklaverei und die Befreiung davon, die wir jedes Jahr im Passah Seder feiern. Von da an wird’s für viele von uns neblig. Der König David ist da irgendwo, und auch Salomon, der das neugeborene Kind in Stücke schneiden ließ; nein, Moment mal, das hat er nicht getan, weil er sehr weise war. Und dann waren da die Makkabäer und Hanukkah. Darauffolgend haben wir die Rabbis und eine Menge religiöses Zeug. Dann kamen für uns wirklich schlechte Zeiten während der Kreuzzüge und der spanischen Inquisition. Endlich wanderten wir alle nach Osteuropa aus, außer denen, die nicht ausgewandert sind, und dann kamen der Holocaust und die Erschaffung des Staates Israel.
Das scheint für viele Juden die jüdische Geschichte zusammenzufassen. Diejenigen, die mehr akademisch gebildet sind oder sich mehr für Geschichte interessieren, wissen wahrscheinlich einiges mehr über den geschichtlichen jüdischen Werdegang – es gibt ja keinen Mangel an informierenden Büchern und Videos.
Aber diejenigen unter uns, denen schon im fünften Schuljahr während der Geschichtsstunde die Augen zufielen wurden, werden mit mir übereinstimmen, dass die chronologische Aneinanderreihung von Geschehnissen nicht unbedingt die beste Methode ist, eine Geschichte zu erzählen. Vielmehr ist es oft einleuchtender, den großen Bogen sichtbar zu machen, der den einzelnen Post-it Notizzetteln auf der chronologischen Geschichtslinie Zusammenhang und Sinn verleiht. Mit anderen Worten, die Bedeutung der einzelnen Personen, Orte, und Daten wird erst sichtbar aus der Vogelperspektive.
Diese Über-Sicht, d.h. Ein Blick von oben über die einzelnen Komponenten einer Geschichte wird auch Meta-Erzählung genannt. Aber hier will ich sie einfach die “Über-Story” nennen. Und da gibt es verschiedene Über-Stories, je nach Herkunft und Hintergrund der jüdischen Leute, mit denen du dich unterhältst. Ist eine dieser Konzeptionen der Über-Story die wahre? Gibt es überhaupt die eine, wahre Über-Story unter den verschiedenen Über-Stories? Wir wollen einige dieser Über-Stories näher untersuchen.
Die traditionelle orthodox-jüdische Über-Story
Falls du aus einer traditionellen jüdischen Familie kommst, und vor allem aus einer orthodoxen Familie, erkennst du sicher diese Über-Story. Dem traditionellen Judentum nach erschuf Gott ein vollkommenes Weltall. Die Menschen erschuf Er mit guten und bösen Neigungen, respektive Jetzer hatov und Jetzer hara genannt1. Gott erwählte die israelitische Nation, also uns und unsere Vorfahren, und schloss mit uns (mit ihnen) einen Bund am Berg Sinai. Wir wurden zu Gottes kostbarem, geliebten Eigentum. Von unserer Seite her verpflichtete uns dieser Vertrag, die 613 Gebote (mitzvot) einzuhalten, die am Sinai gegeben wurden.
Damit wir diese Gebote richtig befolgen könnten, gab Gott uns auch die „Mündliche Torah“ – die Interpretation der schriftlichen Torah, die wir am Berg Sinai erhalten hatten. Durch die Gott-gegebene Autorität der Rabbiner wurde die mündliche Torah (Oral Torah) durch Jahrhunderte hindurch weiterentwickelt2. Der Höhepunkt dieser Über-Story ist Sinai; wie ein berühmter Rabbi einmal (in anderem Kontext) sagte: „Der Rest ist Kommentar.“ (Aber genau diesen Kommentar haben wir im Kopf!)
Am Ende der Geschichte erscheint der Messias, stiftet Frieden auf Erden und ermöglicht die Rückkehr aller Juden nach Israel sowie die Wiedererrichtung des Tempels. Laut dieser Über-Story gibt es potentiell in jeder Generation solch einen Messias – es könnte dein Kind sein – aber sein Offenbarwerden erfolgt im Zusammenhang mit dem religiösen Verdienst des jüdischen Volkes, d.h. durch das Halten der Gebote.
Also handelt diese Über-Story von der Vergangenheit (Erschaffung und Erlösung), von der Gegenwart (unser Lebenswandel, unser heutiger Gehorsam im Halten der Gebote), und von der Zukunft (das messianische Zeitalter und die zukünftige Welt).
Bis ins achtzehnte Jahrhundert entsprach dieses Konzept im Großen und Ganzen der Vorstellung aller Juden. Eine Ausnahme bildete die Gruppe der Karaiten, welche die rabbinische Autorität und die Idee eines mündlich überlieferten Gesetzes verwarfen und sich einzig auf das schriftliche Gesetz (Torah) stützten.
Die kabbalistische Über-Story
Kabbalah, der jüdische Mystizismus, war zur Zeit des Mittelalters in voller Blüte, obwohl er auch in verschiedenen Formen schon früher existierte. Heutzutage ist Kabbalah vielen Leuten durch „pop“-Anhänger wie z.B. Madonna bekannt, oder durch das Kabbalah Center, einer Organisation deren Anliegen es ist, kabbalistische Lehren weltweit zu popularisieren.
Eine besondere Art der Kabbalah wurde im 16. Jahrhundert von Rabbi Isaac Luria entwickelt. Das ist die Version, die heute, in unserer modernen Welt, viel begeisterten Anspruch findet. Das kommt vielleicht daher, dass Kabbalah mythologische und mystische Annäherungen zur Wirklichkeit darstellt.
Obwohl in Rabbi Lurias Kabbalah Sinai und Torah einen genauso wichtigen Platz einnehmen können, wie im traditionellen, orthodoxen Judaismus, legt Rabbi Luria besondere Betonung auf den Beginn der Schöpfung und das Wesen Gottes.
Hier ist die Lurianische Kabbalah in 60 Sekunden: Gott-an-Sich ist bekannt als eyn sof, d.h. „ohne Ende“. Durch eine Zusammenziehung in sich selbst (genannt tzimtzum), ermöglichte Gott die Schöpfung des Universums. Dazu kommt, dass Gott mit seiner Schöpfung in Verbindung steht. Er tut dies durch seine zehn Emanationen oder Ausströmungen, sefirot genannt. Die sefirot haben ein komplexes Verhältnis zueinander und zur Welt (vielleicht hast du ein Diagramm der „Zehn Sefirot“ gesehen). Als Gott das Weltall erschuf wurden göttliche Funken in muschelartige Behälter eingekapselt. Irgendwie sprangen diese Behälter auf, und die Funken wurden auf die Erde verschüttet. Von diesem Zeitpunkt an (bekannt als schevirat kelim oder „Bruch der Behälter“), kam das Böse in die Welt. Daher ist es die Pflicht aller Juden, die Gebote zu halten und damit die Götterfunken wieder in die Höhe zu heben und tikkun olam, d.h. die Wiederherstellung der Welt, herbeizuführen.
Zusammenfassend haben wir hier eine gute Schöpfung; Fall der Götterfunken auf die Erde, mit daraus folgendem Eintritt des Bösen in die Welt; und das Mandat, durch das Halten von mitzvot die Funken wieder hinauf zu Gott zu bringen. Für einige hört sich das sehr un-jüdisch an; für andere ist es jüdische Mythologie mit großer Erklärungskraft. Im Zeitalter von Star Wars und Lord of the Rings ist Mythologie für viele Juden gerade das, was sie suchen.
Die traditionell-orthodoxe jüdische Über-Story unterstreicht also die Zentralität des Sinai und die fortwährende Wichtigkeit der Einhaltung der Gebote und ist somit auf die Gegenwart konzentriert. Die lurianische Kabbalah hebt die Zentralität von Schöpfung und Entfesselung des Bösen (durch das Aufbrechen der Funkenbehälter) hervor; gleichzeitig legt sie Gewicht auf die letztendliche Wiederherstellung des Weltalls wie es von Gott ursprünglich geschaffen wurde. Während die Gebote auch hier eine zentrale Rolle spielen,
spannt sich der Bogen dieser Über-Story bewusst über einer chronologischen Linie vom Anfang zum Ende.
In Kontrast dazu konzentriert sich der traditionelle Judaismus im Großen und Ganzen mehr auf die Gegenwart, d.h. die Mitte der Weltgeschichte. Während diese Story sicherlich auch einen Anfang hat, ist der Eintritt des Bösen in die Welt nicht hervorgehoben – oder überhaupt erwähnt, da alle Menschen „neutral“ erschaffen sind und nur zwischen guten oder bösen Neigungen (yetzer hatov oder yetzer hara) zu wählen brauchen.
Und der traditionelle Judaismus spricht ja auch über das Ende, das Kommen des lang-erwarteten messianischen Zeitalters, aber nicht mit demselben Nachdruck, den es in der kabbalistischen Über-Story einnimmt.
Die klassische liberale jüdische Über-Story
Der liberale Reform-Judaismus ist ein Produkt der Haskalah des 18. Jahrhunderts – der jüdischen Aufklärung und deren Bruch mit der religiösen Tradition. Daher spielt sich seine Geschichte mehr auf säkularer Ebene ab und kreist um die Idee des evolutionären Fortschritts. In seinem frühsten Ansatz legte er vor allem Nachdruck auf die stetig fortschreitende Vervollkommnung der Welt.
In dieser Story ist die Ethik der Propheten und Rabbiner im Vordergrund, in Kontrast zur Betonung von Tradition, Ritual, und mitzvot. Der klassische liberale Judaismus mit seinem unbeschwerten Optimismus ist in Wirklichkeit eine säkulare Geschichte des Fortschritts, in jüdischer Aufmachung. Vor allem in seiner früheren Zeit spiegelte er den optimistischen Zeitgeist der New York World’s Fair (Weltmesse) von 1964-65 wieder, der in den Worten eines Liedes Ausdruck fand: „There’s a great big beautiful tomorrow, shining at the end of every day“ (Ein großes, wunderschönes Morgen scheint für uns am Ende jeden Tages).
Die postmoderne liberale und säkulare jüdische Story
Das liberale jüdische Modell ist heute nicht mehr so optimistisch wie es einmal war. Für viele sind Gerechtigkeit und prophetische Ethik nach wie vor wichtig – tikkun olam, verstanden als soziales Engagement – ist für viele Juden an der Tagesordnung. Aber diese Über-Story hat heute mehr mit postmodernistischen als mit modernistischen Tendenzen zu tun. Das heißt, dass es für viele säkulare Juden vielleicht überhaupt keine erkennbare bogenhafte Über-Story mehr gibt, sondern nur Über-Stories, die wir uns aussuchen, weil sie unserem Leben Bedeutung verleihen. Trotzdem zeigt sich auch jetzt noch eine klare Affinität zum Fortschritt: liberale und säkulare Juden sind immer noch überwiegend „demokratisch“ in ihrem politischen Engagement (falls sie überhaupt politisch engagiert sind) und gerechtigkeitsorientiert von der Veranlagung her. Rabbi Teluschkin vermutet, dass „die oft-bemerkte jüdische Attraktion für liberale und links-gerichtete politische Anliegen wahrscheinlich einen säkularen Versuch darstellt, ein messianisches Zeitalter herbeizuführen“ (/publications/issues/v21-n4/stories-that-jews-tell-about-themselves#_ftn3). In mancher Hinsicht hat diese Über-Story keinen Anfang und kein Ende, nur einen Mittelteil, in welchem wir tikkun olam üben und jüdisch handeln. Viele würden sagen, dass wir nicht wissen können, oder wenigstens nicht mit endgültiger Sicherheit, woher wir kommen, warum die Welt so ist wie sie ist, und wohin die Menschheit geht.
Die klassische säkulare zionistische Über-Story
Dies ist der Zionismus einer früheren Generation, aufgebaut auf Idealismus und nationalen Aspirationen. Natürlich gibt es auch religiöse Versionen von Zionismus. Aber in der hier vorliegenden Version gibt es kein Interesse an Fragen über Schöpfung und Fall; das Böse ist höchstens als die allgegenwärtige Unterdrückung der Juden im Geschichtslauf konzipiert. Obwohl Hanukkah und der makkabäische Sieg eine zeitweilige Erleichterung verschafften, kam doch die eigentliche „Erlösung“ nicht bis 1948 zustande, nämlich mit der Gründung des Staates Israel. In dieser klassischen Form des Zionismus ist der Horizont auf das Ziel einer jüdischen Heimat begrenzt. Auf die Gründung dieses jüdischen Heimatlandes in 1948 folgten kibbutzim und moshavim, Wüstenkultivierung und Pioniergeist (halutzim). Diese Pionierbewegung schürte die Hoffnung auf die Möglichkeit eines utopischen Staates (weiter angefacht durch ideologische Impulse von sozialistischen Bewegungen in Europa).
Heute ist nicht viel von dieser Utopie am Horizont sichtbar, nicht einmal für leidenschaftliche Anhänger des israelischen Staates. Aber dennoch war diese Über-Story für amerikanische Juden signifikant, obwohl die Hoffnung auf ein zukünftiges goldenes Zeitalter inzwischen in die bescheidenere Hoffnung auf einfaches Überleben modifiziert worden ist.
Meine letzte Über-Story wird von vielen Juden (wie auch von nicht-Juden) befürwortet, die an Jesus glauben.
Eine Über-Story aus der hebräischen Bibel und dem Neuen Testament
Diese Über-Story sagt, dass Gott ein gutes Weltall geschaffen hat (soweit mit einigen der oben angeführten Über-Stories übereinstimmend). Aber die Menschheit, durch ihr eigenes Handeln, brachte die Sünde und das Böse in die Welt, und unsere menschliche Natur tendiert zum Bösen hin. (Also ist in dieser Story unsere Natur nicht neutral, wie in der traditionellen Orthodoxie, und das Böse ist hier nicht Nebenprodukt der Schöpfung, wie in der lurianischen Kabbalah.)
Gott erlöste Israel aus Ägypten und schloss einen Bund mit uns (genau wie in der traditionellen orthodoxen Lehre), damit wir als israelitische Nation die Natur Gottes anschaulich machen könnten; damit wir der Welt zeigen könnten, wie eine Gesellschaft aussieht, die vom Bösen und von der Sünde erlöst ist. Doch Israel – wir – versagten wiederholt in unserer Verpflichtung Gott gegenüber. Aber Gott versprach, einen neuen Bund mit uns zu schließen und einen Messias zu senden, der nicht nur die Juden, sondern die ganze Welt von Sünde erlösen würde.
Hier kommen wir zu Jesus, der behauptete, dieser Messias zu sein. Sein Tod und Seine Auferstehung von den Toten büßte für unsere Sünde und bewirkte die Erlösung, die wir in einer besonderen Art und Weise von „jetzt und doch zukünftig“ erleben. Das heißt, wir können einige Aspekte der Erlösung schon jetzt sehen, während andere Aspekte noch zukünftig sind, eintreffen wenn Jesus zurückkommt, wie Er gesagt hat.
Der Höhepunkt dieser Story ist Jesus selbst, vor allem Sein Tod und Seine Auferstehung. Die Geschichte von Jesus kommt nicht als Blitzschlag aus heiterem Himmel, sondern als Erfüllung der alten jüdischen Hoffnung auf einen Messias. Wenn die nicht-jüdische Welt auch an der Erlösung durch Jesus teilnehmen kann, so geschieht das parallel zur Erlösung Israels. Nach wie vor bleibt Jesus integral zu unserer eigenen Story, der Geschichte Israels.
Also, welche dieser Über-Geschichten ist die wahre? Sind alle gültig – „Ein jeder soll nach seiner Fasson selig werden“? Oder ist keine davon wahr, und wir leben in einer Welt ohne „großen Bogen“, ohne endgültige, umfassende Bedeutung? Oder spiegelt vielleicht eine dieser Stories die Wirklichkeit wieder?
Du und ich können nicht bei Starbucks zusammensitzen und uns darüber unterhalten (es sei denn du bist zufällig in der Gegend von San Francisco, in diesem Fall kannst du mich anrufen und wir können zusammen Kaffeetrinken). Wahrheit und Wirklichkeit sind keine zwei-Minuten-Themen. Aber eins kann ich sagen: die meisten von uns wählen uns eine Über-Story aus, nicht weil wir uns hinsetzen und rational eine mit der anderen vergleichen, sondern weil die Voreingenommenheit und Vorurteile, die wir mit an den Tisch bringen, uns in unserer Wahrheitssuche beeinflussen. Wir können diese Voreingenommenheit in Frage stellen, aber nicht abstreiten; denn es gibt niemand, der sie nicht hat.
Und jede Über-Story hat ihre Annahmen und Voraussetzungen. Lies den 2. Teil, worin ich über einige dieser Voreingenommenheiten spreche, die von Anhängern der verschiedenen Stories mit an den Diskussionstisch gebracht werden. Natürlich wirst du deine Annahmen verteidigen, so wie ich die meinigen. Aber wir sollten immer darauf vorbereitet sein, unsere Annahmen mit den Wirklichkeiten, die wir in der Welt antreffen, konfrontiert und in Frage gestellt zu sehen. Ich bin überzeugt, dass die Über-Story von Jesus dem Messias diesen Realitäten am besten gerecht wird, sowohl für Juden als auch für andere.
ENDNOTIZEN
Speziell setzt der traditionelle Judaismus das Inerscheinungtreten des yetzer hatov auf später an, ungefähr auf das 13. Lebensjahr.
Im konservativen Judaismus ist Autorität gewöhnlich inmitten des israelischen Volkes als Ganzes lokalisiert.
Joseph Telushkin, Jewish Literacy (New York: William Morrow and Co., 1991), p. 546.
Das Hebräisch der Illustration ist aus 5. Mose 16,20 (http://biblia.com/bible/esv/Deut%2016.20), traditionell übersetzt als „Justice, justice shall you pursue“ (Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du üben).