In der kleinen Synagoge war die Atmosphäre mit Intensität geladen. Es war stickig. Die Männer der Gemeinde standen beisammen, im feierlichen Gebet versunken, aufs Äußerste konzentriert. Ihre mit dem Tallit (Gebetsschal) bedeckten Häupter verliehen so manch einem dieser Männer das Aussehen eines Propheten, der für sein Volk fleht, sich an die Brust schlägt und um der Nation willen seine Seele demütigt.

Viele jüdische Menschen haben ebensolche Erinnerungen an den Gottesdienst zum Jom Kippur (Versöhnungstag), dem heiligsten aller Tage im Jahr. Meine Erfahrung sah jedenfalls so aus.

Als kollektive Gemeinschaft soll Israel nach Sühnung suchen.

Doch ist der Jom Kippur nicht bloß eine Zeit für persönliche Reflektion; auch ist dieser Tag nicht lediglich als Gelegenheit für eine Seelenläuterung gedacht, damit wir uns besser fühlen. Vielmehr wird zu dieser Zeit jeder Einzelne inständig aufgerufen, sich vor dem Herrn zu demütigen (3. Mose 23,27). Als kollektive Gemeinschaft soll Israel nach Sühnung suchen. Aus diesem Grunde flehte der Hohepriester Israels von Herzen für die Versammlung zu Gott. Die Rolle des Hohenpriesters war die eines Mittlers.

Der levitische Gottesdienst verlangte, dass der Hohepriester ganz allein das mit Ehrfurcht erfüllte Allerheiligste betrat. Jedes Jahr wurde ein Mann aus der levitischen Familie für dieses geheiligte Amt ausgesondert. Seine Rolle war in der Heiligen Schrift sorgfältig verordnet: „Und er tue Sühnung für das Heiligtum wegen der Unreinheiten der Kinder Israel und wegen ihrer Übertretungen, nach allen ihren Sünden; und ebenso soll er für das Zelt der Zusammenkunft tun, das bei ihnen weilt, inmitten ihrer Unreinheiten“ (3. Mose 16,16).

Sogar bis in unsere heutige Zeit ist für den Versöhnungstag die grundlegende Vorstellung von gemeinschaftlichem Sündenbekenntnis und Vermittlung bestehen geblieben. Im Machsor, dem speziellen Gebetbuch für Rosch haSchanah und Jom Kippur, wird das offensichtlich. Am bemerkenswertesten darin ist das Bekenntnisgebet „Oschamnu“:

Mit Schuld sind wir beladen: Treulos und ohne Glauben sind wir gewesen, wir haben geraubt und niederträchtige Reden geführt; Unrecht haben wir begangen und Ungerechtigkeit verursacht; anmaßend sind wir gewesen und haben Gewalt getan, die Unwahrheit haben wir gesprochen…(Hertz Daily Prayer Book, S. 907; Übers. des vorliegenden Abschnitts für diesen Artikel: L.K.)

Dieses Bekenntnisgebet kommentierte Isaak Luria, der große jüdische Mystiker des 16. Jahrhunderts, mit den folgenden Worten:

Warum hat man dies Bekenntnis in der Mehrzahl geschrieben, sodass wir sagen: ‚Mit Schuld sind wir beladen‘ anstatt ‚mit Schuld bin ich beladen‘? Weil ganz Israel ein Leib ist, und jeder einzelne Israelit ist ein Glied dieses Leibes. Daraus folgt gegenseitige Verantwortung unter sämtlichen Gliedern. (Hertz Daily Prayer Book, S. 906; Übersetzung des vorliegenden Abschnitts für diesen Artikel: L.K.)

Gemeinschaftlicher Gottesdienst und gemeinschaftliches Bekenntnis verlangen einen gemeinsamen Stellvertreter: jemanden, der als Vermittler zwischen dem Volk und Gott dienen kann. In der Heiligen Schrift wurde vom Herrn selber bestimmt, wer zu diesem Stellvertreter auserwählt war; dennoch kam dieser Stellvertreter mitten aus dem Volk.

Unser Vater Abraham vermittelte für die Leute von Sodom. Mose diente während unserer gesamten Zeit in der Wüste als vermittelnder Stellvertreter. Und sobald eine levitische Priesterschaft aufgerichtet war, füllte der Hohepriester das Amt als Stellvertreter des Volkes aus. Am Jom Kippur betrat er zugunsten des Volkes das Allerheiligste und brachte das besondere Opfer dar. Dieses Konzept der priesterlichen Fürsprache setzt sich als Teil der Gottesdienste zu den jüdischen Hohen Feiertagen auch heute noch fort. Während dieser Tage der Ehrfurcht und Buße bringt der Rabbi als Opfer zugunsten seiner Gemeinde Gebete dar. Er gesteht ein, dass er selber Verfehlungen begangen hat und unfähig ist, die Menschen seiner Gemeinde angemessen zu vertreten; dennoch besteht die Notwendigkeit, dass er als Stellvertreter der Gemeinde den Vermittlerdienst tut.

Aber dabei bleibt immer noch die Frage bestehen: Warum brauchen wir überhaupt jemanden, der vor den Menschen und vor Gott eintritt? Mancher Leser sagt möglicherweise: „Für die Leute vor 2.000 Jahren mag das ja vielleicht wichtig gewesen sein. Aber auf unser Leben heute hat das wohl keine Auswirkungen mehr.“ Doch in keiner Weise macht der Lauf der Zeit die wichtigen und zeitlosen Wahrheiten der Heiligen Schrift weniger gültig! Wenn im Altertum ein Mittler zwischen den Menschen und Gott notwendig war, dann ist auch heute einer notwendig.

Ein Mittler ist jemand, der zwischen zwei entfremdeten Parteien steht und sie zu versöhnen trachtet. Am Jom Kippur verstehen wir noch am leichtesten, dass wir Gott angegriffen haben und für die Sühnung sein Erbarmen sichern müssen. Das bestehende Angriffsvergehen ist gemeinhin unter dem Namen „Sünde“ bekannt. Der Tenach sagt ganz ausdrücklich:

Der Herr hat vom Himmel herniedergeschaut auf die Menschenkinder, um zu sehen, ob ein Verständiger da sei, einer, der Gott suche. Alle sind abgewichen, sie sind allesamt verdorben; da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer (Psalm 14,2-3).

Ein Abgrund existiert zwischen den Menschen und Gott. Diese Distanz zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung muss überbrückt werden; und zwar von jemandem, der ein beidseitiger Stellvertreter ist. Zu biblischer Zeit gab es von Gott anerkannte Männer, die ihm als Fürsprecher dienten: die Patriarchen, die Priester und die Propheten.

Wir wissen, dass der Heilige Israels sein Volk niemals verlassen und nicht von ihm weichen wird.

Sie waren nicht perfekt, und auch ihre eigenen Sünden mussten gesühnt werden. Am Jom Kippur herrschte immer die Angst, dass das Opfer des Hohenpriesters nicht annehmbar sein und er selber von Gott geschlagen werden könnte. Deshalb trug er ein Seil um die Hüfte, damit man ihn im Falle seines Todes aus dem Allerheiligsten herausziehen konnte. Wenn der Priester sich selber nicht richtig gereinigt hätte, so wären die Konsequenzen für das gesamte Volk wortwörtlich katastrophal gewesen.

Unsere Vorfahren hatten den Vorzug eines Opfersystems und einer aaronitischen Priesterschaft. Heute allerdings bietet unsere Situation nichts mehr von diesen sichtbaren Sühnungsmitteln, und es gibt keine unmittelbar bereitstehenden Mittler. Für alle, die Gott suchen, sollte dies eine schlimme Zwickmühle darstellen. Wir wissen, dass der Heilige Israels sein Volk niemals verlassen und nicht von ihm weichen wird; dies weist uns darauf hin, dass immer ein Sühnungsmittel für uns bereitsteht. Wer kann heute für uns eintreten? Wir haben eine Antwort auf diese Frage. Und Sie?

Übersetzung: Lars Kilian