Feigen für Jesus, oder: Was hat es mit diesem Fluch auf sich?
Als ich gerade im Finanzdistrikt von New York City evangelistische Traktate verteilte, blieb ein jüdisch-orthodoxer Mann stehen und sagte zu mir: „Sie sollten besser nicht an Jesus glauben. Jesus war ein ungehaltener Mensch.“
Auf Englisch erstmals am 22. Oktober 2018 erschienen.
„Sie sollten besser nicht an Jesus glauben. Jesus war ein ungehaltener Mensch.“
Damit erregte er nun wirklich meine Aufmerksamkeit. Ich bat ihn um eine Erklärung, was er denn damit meinte. Daraufhin erzählte er die Geschichte, wie Jesus den Feigenbaum verfluchte.
War Jesus hinsichtlich des Feigenbaums unvernünftig?
Dieser Orthodoxe ist nicht der Einzige, der die Berichte der Evangelien in Matthäus 21 und Markus 11 missversteht. Der britische Philosoph Bertrand Russell kommentiert: „Das ist eine höchst merkwürdige Geschichte; es war ja gar nicht die richtige Jahreszeit für Feigen. Da konnte man dem Baum doch nun wirklich keinen Vorwurf machen. Das lässt mir nur einen Eindruck übrig: Entweder hinsichtlich der Weisheit oder aber hinsichtlich der Tugend steht Christus genauso hoch wie viele andere Menschen, die der Weltgeschichte bekannt sind.“1
Selbst christliche Fachleute sind im Hinblick auf die Bedeutung dieser Geschichte uneins. Manche streiten darüber, ob Jesus vernünftigerweise Feigen an diesem Baum erwarten konnte (Alfred Edersheim sagt „Ja“); viele andere behaupten, der Feigenbaum stehe symbolisch für das glaubenslose Volk Israel.
Ich möchte eine völlig andere Bedeutung vorschlagen. Erstens müssen wir uns von der Meinung befreien, Jesus sei von dem Baum frustriert und verärgert gewesen. Das ist doch derselbe Jesus, der Wasser in Wein verwandelt und mehr als fünftausend Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen gespeist hatte! Hätte Jesus so großen Appetit auf Feigen gehabt, hätte er sie durch ein Wunder erschaffen können. Und was die Interpretation anbelangt, dies sei ein Fluch über Israel: Das wirkt auf mich ganz so, als nähme man sich hinsichtlich der Absichten, Zuneigungen und Verheißungen Gottes höchst gefährliche Freiheiten heraus – vor allem, da Jesus seinen Fluch über diesen Baum und das daraus hervorgegangene Absterben des Baumes als Demonstration des Glaubens hinstellt (Matthäus 21,21).
Die Feigenbaum-Episode folgt unmittelbar auf Jesu triumphalen Einzug nach Jerusalem.
Schlüssel zu dieser Bibelstelle ist ihr Kontext
Ich glaube, der Schlüssel zu dieser Geschichte liegt in ihrem Kontext. Die Feigenbaum-Episode folgt unmittelbar auf Jesu triumphalen Einzug nach Jerusalem und liegt genau zwischen zwei Besuchen im Tempel eingebettet. Tatsächlich sehe ich den Tempel mit allem, wofür er steht, als ganz zentral für diesen Bibelabschnitt.
Gott hatte den Tempel als einen Ort festgesetzt, wo er den Menschen seines Volkes begegnen, auf ihr Gebet antworten und ihre Sünden vergeben würde. Aber das alles sollte sich jetzt sehr bald ändern. Als Jesus diesen Fluch aussprach, stieß er ja keinen Schwall zorniger Schimpfworte hervor. Er verwies auf ein Gerichtshandeln Gottes.
Gerichtshandeln mag uns vielleicht schwer erträglich erscheinen; aber ohne dieses Handeln kann es keine Gerechtigkeit geben. Ja, ohne das Gericht Gottes kann es nicht einmal wirkliche Erlösung geben. Jesus hatte das begriffen – darum würde er nun bald ans Kreuz gehen und genau dieses Gericht an unserer Stelle auf sich nehmen. Vergebung sollte nicht mehr länger durch Tieropfer vermittelt werden, die von menschlichen Priestern dargebracht wurden. Rettung sollte ein für alle Mal durch die ewige Priesterschaft des Messias persönlich erwirkt werden.
Gerade weil Gott Gefallen an Gnade hat, hat er für Opfer gesorgt.
Genau, wie der verfluchte Feigenbaum nicht mehr länger als Nahrungsquelle dienen würde, würde der Tempel nicht mehr länger ein Ort der Erlösung sein. Schließlich geht es Gott nie um Opfer, sondern um Barmherzigkeit (Hosea 6,6). Gerade weil es Gott um Gnade und Barmherzigkeit geht, hat er für Opfer gesorgt. Das gesamte Opfersystem verwies auf das Opfer Jesu. Sein Opfer war nicht lediglich ein Symbol für Gottes Erlösung; es befriedigte tatsächlich sein gerechtes Gericht. Von diesem Zeitpunkt an waren die Tieropfer – Stellvertreter und Vorbilder für einen Größeren – nicht mehr länger nötig.
Und ganz, wie die Tieropfer auf den Einzigen hinwiesen, dessen Opfer wirklich unsere Sünden sühnen konnte, so verwiesen die Steine des Tempels auf die Stelle, die Gott in unserem Herzen einnehmen möchte. Gott ging es nie um ein Gebäude; er wollte mitten unter seinem Volk wohnen, sodass sie ihn kennen und anbeten sollten.
Jesus verkündete sowohl das Gericht als auch die Gnade Gottes als er den Feigenbaum verfluchte.
Wie reagieren wir auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes?
Nein, Jesus war nicht ungehalten, als er den Feigenbaum verfluchte. Er verkündete sowohl das Gericht als auch die Gnade Gottes. Bist du nicht dankbar für Gottes Gnade durch Jesus und sein Opfer? Wie können wir ihm wohl besser danken, als indem wir anderen so gnädig sind, wie er uns gegenüber ist – und indem wir alle Opfer bringen, die er uns abverlangt, damit auch andere seine Gnade erfahren können?
David Brickner, San Francisco
Leitender Direktor und Missionar
David Brickner ist Leitender Direktor von Juden für Jesus. Vom Hauptquartier in San Francisco aus beaufsichtigt er den weltweiten Dienst. David hat seinen Master-Abschluss in Missiologie mit dem Schwerpunkt Judenmission/Judaistik an der Fuller School of World Missions abgelegt. Er ist Autor mehrerer Bücher und war bereits Gesprächsgast diverser Fernsehsendungen in den USA. Davids Tochter Ilana hat kürzlich ihr Studium an der Biola University abgeschlossen; sein Sohn Isaac gehört zum Missionarsteam von Juden für Jesus. Isaac und seine Frau Shaina haben eine Tochter namens Nora, die David zum Mitglied im Großeltern-Club gemacht hat – eine Mitgliedschaft, auf die er sehr stolz ist!
Übersetzung: Lars Kilian
Fußnoten