Warum denn ins Gefängnis?

„Du kannst ihm sagen, dass mich niemand erschießen wird.“

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich. „Hoffentlich komme ich nach Hause. Wenn aber nicht, bekommst du einen Anruf.“
Einen Moment lang war es in der Leitung still. Dann meinte Ruth: „Es wäre gut, wenn du mit den Kindern reden könntest. Leah bekommt dauernd Bauchweh. Und Joel… der fragt…“
Ruth hielt wieder inne. „Was denn?“, wollte ich wissen.
„Na ja, du weißt doch, wie Vierjährige so sind.“ Ich spürte, dass Ruth der Sache einen lockeren Ton geben wollte, damit ich mir keine zu großen Sorgen machte. Ich spürte auch, dass es einen Anlass für ihre Sorge gab.
„Also, was fragt er denn?“, drängte ich.
„Er will wissen, ob sie dich erschießen werden.“
Jetzt war es an mir, innezuhalten. Endlich sagte ich: „Du kannst ihm sagen, dass mich niemand erschießen wird.“
„Das habe ich ihm schon gesagt. Aber du musst selber mit ihm reden“, erwiderte Ruth.
„Ich werde heute Abend mit ihnen beiden reden – wenn ich nach Hause komme.“

An diesem Abend kam ich aber nicht nach Hause. Ich wurde zum dritten Mal am Los Angeles Pierce Community College verhaftet, als ich unsere evangelistischen Traktate verteilte. Die Anklage lautete auf „unbefugtes Betreten“, obwohl der Campus öffentlicher Grund und Boden war. Der Prozess belief sich auf „Verhaftung und Inhaftierung“, obwohl die Campus-Polizei bereits durch die Kanzlei des städtischen Anwalts darüber informiert war, dass ich nichts Unrechtes tat. Das Ergebnis war eine Nacht im Gefängnis, obwohl ich das Gesetz nicht gebrochen hatte.

Ich hätte eine Verhaftung vermeiden können.

Ich hätte eine Verhaftung vermeiden können. Es wäre nur meine Unterschrift auf einem Erlaubnisschreiben nötig gewesen. Damit hätte ich mich zur Befolgung gewisser Richtlinien verpflichtet, welche (so die Aussage der Campus-Verantwortlichen) lediglich die Ordnung aufrechterhalten sollten. Doch das Erlaubnisschreiben und die Richtlinien verrieten einen ganz anderen Zweck. Diese Regularien sollten die Ausübung der Redefreiheit beschneiden und verhindern, obwohl diese Redefreiheit durch die Verfassung der USA bereits garantiert ist. Mit meiner Unterschrift auf diesem Erlaubnisschreiben hätte ich Richtlinien zugestimmt, die unsere Evangeliums-Verkündigung an alle Hörwilligen eingefroren hätten.

Hier ging es um Schwarz oder Weiß. Mit gutem Gewissen konnten weder ich noch meine Kollegen bei Juden für Jesus auf unser Recht verzichten, die Gute Botschaft so frei und vollständig zu verkünden, wie das die Verfassung unseres Landes ohnehin schon gewährt.

Hier ging es um Schwarz oder Weiß.

Mit gutem Gewissen konnten weder ich noch die anderen uns einen Maulkorb anlegen lassen und nur dann noch von Christus reden, wenn jemand sich die Mühe machte, zuerst auf uns zuzukommen und die erste Frage zu stellen. Mit gutem Gewissen konnten weder ich noch die anderen etwas anderes tun, als fest zu bleiben – selbst, wenn Beobachter dann annehmen mussten, dass wir die Übeltäter und Gesetzesbrecher seien. Wir mussten einfach fest bleiben – im vollen Bewusstsein, dass man uns ein ums andere Mal in Gewahrsam nehmen würde. Wir hatten verstanden.

Später an diesem Morgen passierte genau das, was ich erwartet hatte – das, wovon ich gehofft hatte, dass es nicht eintreten würde. Man legte meinem Mitarbeiter und mir Handschellen an und führte uns ab. Am späten Abend kam der Wachhabende zur Zelle und rief meinen Namen. Ich trat vor und hielt an, als er befahl: „Sofort stehenbleiben!“ Zum routinemäßigen Öffnen der Zelle gehörte ein schneller Blick über die übrigen Inhaftierten, um sicherzustellen, dass jeder hübsch an seinem Platz war. „In Ordnung“, sagte er, „rauskommen.“ Er sollte mich zu einem Konferenzraum bringen, wo ich mit unserem Anwalt sprechen konnte.

„Ich weiß wirklich zu schätzen, was ihr da macht.“

Als der Wächter mich den Gang entlangführte, hielt er meinen Ellbogen fest – zur Erinnerung daran, dass ich mich seiner Geschwindigkeit anzupassen hatte. Wir waren noch nicht weit gekommen; da unterbrach er das, was ich für einen schweigenden Marsch gehalten hatte, mit den Worten: „Ich weiß wirklich zu schätzen, was ihr da macht.“
Etwas überrascht blickte ich an der Uniform vorbei und studierte sein Gesicht. „Wie das?“, erkundigte ich mich.
„Ich glaube ebenfalls an Christus“, sagte er. „Irgendjemand muss ja endlich mal für unsere Rechte eintreten.“
Er hatte verstanden.

Ich wurde entlassen, und bis zum Wochenende hatte sich die Sache scheinbar erledigt. Es gab eine Konferenz mit unseren Anwälten, den Campus-Anwälten und einem Bezirksrichter. Ich und meine Mitarbeiter von Juden für Jesus konnten künftig unsere Literatur verteilen, ohne weitere Verhaftungen fürchten zu müssen. Indessen konnten die Campus-Verantwortlichen ihre verfassungsmäßigen Bildungslücken in ihren derzeitigen Richtlinien aufarbeiten. Insgesamt sechs unserer Leute mussten alles in allem siebzehn unnötige und unverdiente Haftstrafen über sich ergehen lassen – aber das war jetzt vorbei.

Daheim war die Zeit überreif für ein Gespräch mit meinen Kindern. Joel war froh, dass man mich nicht erschossen hatte. Leah hatte wieder einmal Bauchweh, war aber nicht wirklich krank.

Ich setzte mich an ihr Bett. „Hat jemand in der Schule etwas zu dir gesagt?“, fragte ich. Sie reagierte nur mit einem Schulterzucken.
„Was haben sie denn gesagt?“
„Nichts…“
Ich folgte meinem Riecher und versuchte es anders. „Was hat dir deine Lehrerin denn erzählt?“
„Sie hat gesagt, sie hat letzte Woche dein Bild in der Zeitung gesehen. Und meine Freunde haben das mitgehört. Da haben sie mich halt gefragt. Da hab ich ihnen erzählt, dass du bei Juden für Jesus arbeitest und den Leuten von Jesus erzählst, und dass du verhaftet worden bist.“

„Sie sind nicht gläubig, also würden sie es vielleicht gar nicht verstehen.“

Damit holte Leah ein Buch unter dem Kopfkissen hervor und begann zu lesen. Joel wollte ihr beim Umblättern helfen. „Lass das!“, schnappte sie.
„Hast du versucht, ihnen zu erklären, warum ich ins Gefängnis musste?“, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Na ja, weißt du, sie sind nicht gläubig, oder jedenfalls nur ein paar von ihnen, also würden sie es vielleicht gar nicht verstehen.“
„Verstehst du es denn?“, forschte ich sanft.
Leah nickte.
„Du stehst besser auf, sonst kommst du noch zu spät“, sagte ich.
„Jaaa, Leah“, wiederholte Joel. „Du stehst jetzt besser auf.“

Sie schnitt mir eine Grimasse, und ich grimassierte zurück – mit einem Gesicht, das sie zum Lachen brachte. Dann stand sie auf, zog sich an und ging zur Schule.
Sie hatte verstanden!