Das „Dajenu“ an Jom Kippur? – Wer hat jemals davon gehört? Wir singen „Dajenu“ am Passahfest, nicht am Tage der Buße.

Am Passahfest verkünden wir „Dajenu!“

Doch in gewissem Sinn ist das Dajenu passend zu Jom Kippur. „Dajenu“ ist ein hebräisches Wort, das bedeutet „Es reicht uns, es ist genug.“ Und am Passahfest verkünden wir „Dajenu!“ als dankbare Antwort auf die Wunder, die Gott unseretwegen während unserer Zeit der Befreiung für uns vollbracht hat. Aber wäre es nicht an Jom Kippur passend, uns selbst zu fragen „Ist es genug?“ Sind die Gebete, die wir sprechen und das Fasten, das wir auf uns nehmen, für uns genug? Oder sollten wir etwas mehr tun?

Als der Tempel in Jerusalem stand, wurde das Opfer als wesentlicher Bestandteil gesehen, Gottes Gnadenerweis für unsere Übertretungen zu sichern. Seit der Zerstörung des Tempels durch die Römer 70 n.Chr. jedoch haben wir keine Opfer mehr dargebracht, und unsere Weisen haben erklärt, dass das Beten und Fasten genug ist.

Aber wenn das stimmt, warum ist ein seltsamer Brauch durch die Jahrhunderte hindurch erhalten geblieben: der Brauch des Sühneopfers „Kapporot„? In einigen Haushalten versammeln sich am Tag vor Jom Kippur die Familienmitglieder, um eine Auswahl aus Psalm 107 und aus dem 33. Kapitel des Buches Hiob zu lesen. Für jedes Familienmitglied wurde zuvor Geflügel bereitgestellt, für die Männer Hähne und Hennen für die Frauen. Dann ergreift jeder sein Geflügel, wirbelt es dreimal über seinem Kopf und stimmt ein düsteres Gebet an:

„Das ist mein Ersatz, mein stellvertretendes Opfer, meine Sühne. Dieser Hahn (bzw. diese Henne) geht dem Tod entgegen, ich aber werde ein langes und angenehmes Leben in Frieden finden.“1

Danach wird das Geflügel dem Schochet, dem rituellen Schlachter, übergeben und weiter an die Armen verschenkt – bis auf die Innereien, die den Vögeln überlassen werden.

Kapporot fordert uns zu der Frage heraus: Sind nur Gebete und Fasten an Jom Kippur ausreichend? Sind sie „Dayenu“, genug? Wenn ja, – falls wir nicht an die Notwendigkeit eines Opfers an Jom Kippur glauben – wie erklären wir dann die Praxis von Kapporot?

Manche könnten es damit begründen, dass Kapporot lediglich ein Brauch aus unserer Vergangenheit ist, ein zeremonielles Überbleibsel noch aus dem 9. Jahrhundert der Christlichen Zeitrechnung her rührend. Vielleicht haben wir früher an die Notwendigkeit eines Opfers geglaubt, wird weiter argumentiert, aber jetzt nicht mehr.

Kapporot jedoch nur auf die Vergangenheit zu begrenzen, ist nicht sehr genau. Wer noch das „Schtetl“-Leben der Vorkriegszeit Osteuropas kennt, der erinnert sich auch noch recht gut an Kapporot. Und die Kapporot-Zeremonie selbst ist noch immer Bestandteil des aktuellen Philips-Gebetsbuches.

Andere begegnen der Herausforderung des Kapporot so: Sie erkennen die Existenz der Kapporot-Zeremonie an, aber bedauern deren Praxis klar und deutlich. Joseph Caro, der Verfasser des „Schulchan Aruch“, nannte das Kapporot schlichtweg eine „dumme Gewohnheit“.2
Einige behaupten, es sei eine heidnische, törichte Vorstellung, anzunehmen, wir könnten Unglück abwenden, indem wir dem Bösen ein alternatives Opfer darbringen. Aber diejenigen, die aus diesen Gründen Anstoß am Kapporot nehmen, verstehen nicht die dieser Zeremonie zu Grunde liegende Motivation. Kapporot ist nicht als abergläubischer Ritus gedacht, durch den wir Unglück umgehen oder uns davon loskaufen könnten. Vielmehr basiert Kapporot auf biblischen Vorstellungen von Gnade und Stellvertretung wie die vorgeschriebenen Opfer in der Thora.

Unsere Sünden und deren Konsequenzen dürfen von einem Anderen getragen werden.

Unsere Sünden und deren Konsequenzen dürfen von einem Anderen getragen werden. Gott wird in seiner Barmherzigkeit einen Stellvertreter akzeptieren, wenn wir ihm dieses stellvertretende Opfer mit Reue und Glauben darbringen.

In diesem Licht betrachtet stimmt Kapporot mit der leidenschaftlichen Hoffnung der Orthodoxen unseres Volkes überein, die sich nach dem Wiederaufbau des Tempels und der Wiedereinführung des Opfersystems sehnen. Dieses Sehnen findet in dem Gebet am Ende der Amidah eloquenten Ausdruck, wo erbeten wird,

„dass der Tempel schnell wiederaufgebaut werde in unseren Tagen…
Und da werden wir Dir dienen mit Ehrfurcht …Dann wird das Opfer von Juda und von Jerusalem angenehm sein vor Gott wie vor langer Zeit und in den längst vergangenen Jahren.“ 3

Die Praxis von Kapporot deutet auf ein verwirrendes, unausgesprochenes Verstehen, dass vielleicht doch etwas fehlt, dass vielleicht unsere Gebete und unser Fasten an Jom Kippur doch nicht „Dayenu“ sind, nicht ausreichen, um Sühnung für uns sicherzustellen und das aus gutem Grund: Denn Gott selbst hat uns gesagt, worin der Mangel besteht:

„Ich habe es euch gegeben, für euch Sühne auf dem Altar zu schaffen. Das Blut ist es, das Sühnung für die Seele erwirkt.“ (3. Mose 17,11)

Aber wenn ein Opfer nötig ist, ist dann Kapporot genug? Kann das Leben eines Hahnes oder einer Henne unsere Übertretungen zudecken? Unsere Weisen wählten Geflügel, weil das hebräische Wort „gever“ sowohl „Mann“ als auch „Hahn“ bedeuten kann. Ungeachtet dieser Argumentation und abgesehen von der angemessenen Absicht der Ausführenden ist Kapporot nicht ausreichend, nicht „Dajenu“, einfach deshalb, weil es nicht das ist, was Gott vorgeschrieben hat:

„Ich habe es euch gegeben, für euch Sühne zu schaffen auf dem Altar“, hat der Allmächtige erklärt Aber mit dem verlorengegangenen Altar, – welcher Weg bleibt uns noch?

„Wir werden geheilt durch seine Wunde…“

Vielleicht verbirgt sich die Antwort in den Worten eines Gebets, das im Mahzor steht, dem Gebetsbuch für den Tag der Sühne:

„Er hat das Joch für unsere Ungerechtigkeit und unsere Übertretung getragen. Er wurde verwundet wegen unserer Übertretung. Er trägt unsere Sünden auf seiner Schulter, dass wir Vergebung finden für unsere Ungerechtigkeit. Wir werden geheilt durch seine Wunde…“4

Dieses Gebet hat eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem 53. Kapitel Jesajas, einem Abschnitt der Heiligen Schrift, der laut vielen unserer alten Weisen den Messias beschreibt:

„Doch er war durchbohrt um unserer Vergehen willen, zerschlagen um unserer Sünden willen. Die Strafe lag auf ihm zu unserm Frieden, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden….
Wenn er sein Leben als Schuldopfer eingesetzt hat, wird er Nachkommen sehen, er wird seine Tage verlängern. Und was dem HERRN gefällt, wird durch seine Hand gelingen.“

(Jesaja 53, 5 und 10)

Wenn dies die Vorkehrung ist, die der Allmächtige für uns leistet, im Einklang mit den hebräischen Heiligen Schriften, dann ist dieses Opfer sicherlich genug für uns alle.

Dajenu.

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  1. Jewish Liturgy Prayers and Synagogue Service, Through the Ages, 1975, Keter Publishing House, Jerusalem Ltd. p. 173
  2. Encyclopedia Judaica vol. 10
  3. Hertz Prayerbook, p.157
  4. Forms of Prayer for Day of Atonement, Revised Edition, pp.287-288, Rosenbaum and Werblowsky, New York, 1980